Über die Grenzen -
Jacques Mourad und die Liebe in Syrien
Navid Kermani • 2015 Die Friedenspreisrede von Navid Kermani (Last Update: 20.10.2015)
An
dem Tag, als mich die Nachricht vom Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels erreichte, am selben Tag wurde in Syrien Jacques Mourad
entführt. Zwei bewaffnete Männer traten in das Kloster Mar
Elian am Rande der Kleinstadt Qaryatein und verlangten nach Pater
Jacques. Sie fanden ihn wohl in seinem kargen kleinen Büro, das
zugleich sein Wohnzimmer und sein Schlafzimmer ist, packten ihn und
nahmen ihn mit. Am 21. Mai 2015 wurde Jacques Mourad eine Geisel des
sogenannten „Islamischen Staats“
Ich
habe Pater Jacques im Herbst 2012 kennengelernt, als ich für
eine Reportage durch das bereits kriegsgeschüttelte Syrien
reiste. Er betreute die katholische Gemeinde von Qaryatein und
gehörte zugleich dem Orden von Mar Musa an, der sich Anfang der
achtziger Jahre in einem verfallenen frühchristlichen Kloster
gegründet hat. Das ist eine besondere, eine wohl einzigartige
christliche Gemeinschaft, denn sie hat sich der Begegnung mit dem
Islam und der Liebe zu den Muslimen verschrieben. So gewissenhaft die
Nonnen und Mönche die Gebote und Rituale ihrer eigenen,
katholischen Kirche befolgen, so ernsthaft beschäftigen sie sich
mit dem Islam und nehmen bis hin zum Ramadan teil an der muslimischen
Tradition. Das klingt verrückt, ja, aberwitzig: Christen, die
sich nach ihren eigenen Worten in den Islam verliebt haben. Und doch
war diese christlich-muslimische Liebe noch vor kurzem Wirklichkeit
in Syrien und ist es in den Herzen vieler Syrer noch immer. Mit ihrer
Hände Arbeit, ihrer Herzen Güte und ihrer Seelen Gebete
schufen die Nonnen und Mönche von Mar Musa einen Ort, der mir
utopisch anmutete und für sie selbst nichts Geringeres als die
endzeitliche Versöhnung – sie würden nicht sagen:
vorwegnahm, aber doch vorausfühlte, die kommende Versöhnung
voraussetzte: ein Steinkloster aus dem siebten Jahrhundert mitten in
der überwältigenden Einsamkeit des syrischen
Wüstengebirges, das von Christen aus aller Welt besucht wurde,
an dem jedoch zahlreicher noch Tag für Tag Dutzende, Hunderte
arabische Muslime anklopften, um ihren christlichen Geschwistern zu
begegnen, um mit ihnen zu reden, zu singen, zu schweigen und auch, um
in einer bilderlosen Ecke der Kirche nach ihrem eigenen, islamischen
Ritus zu beten.
Als
ich Pater Jacques 2012 besuchte, war der Gründer der
Gemeinschaft, der italienische Jesuit Paolo Dall'Oglio, kurz zuvor
des Landes verwiesen worden. Zu laut hatte Pater Paolo die Regierung
Assad kritisiert, die den Ruf des syrischen Volkes nach Freiheit und
Demokratie, der neun Monate lang friedlich geblieben war, mit
Verhaftungen und Folter beantwortete, mit Knüppeln und
Sturmgewehren und schließlich auch mit ungeheuren Massakern und
sogar Giftgas, bis das Land schließlich im Bürgerkrieg
versank. Aber Pater Paolo hatte sich auch gegen die Führung der
syrischen Amtskirchen gestellt, die zu der Gewalt der Regierung
schwiegen.Vergeblich hatte er in Europa um Unterstützung für
die syrische Demokratiebewegung geworben, vergeblich die Vereinten
Nationen aufgefordert, eine Flugverbotszone einzurichten oder
wenigstens Beobachter zu schicken. Vergeblich hatte er vor einem
Krieg der Konfessionen gewarnt, wenn die säkularen und
gemäßigten Gruppen im Stich gelassen und aus dem Ausland
ausschließlich die Dschihadisten unterstützt würden.
Vergeblich hatte er die Mauer unserer Apathie zu durchbrechen
versucht. Im Sommer 2013 kehrte der Gründer der Gemeinschaft von
Mar Musa noch einmal heimlich nach Syrien zurück, um sich für
einige muslimische Freunde einzusetzen, die in den Händen des
„Islamischen Staat“ waren, und wurde selbst vom
„Islamischen Staat“ entführt. Seit dem 28. Juli 2013
fehlt von Pater Paolo Dall'Oglio jede Spur.
Pater
Jacques, der nun allein die Verantwortung für das Kloster Mar
Elian trug, ist seinem Wesen nach ein ganz anderer Mensch, kein
begnadeter Redner, kein Charismatiker, kein temperamentvoller
Italiener, sondern wie so viele Syrer, die ich kennenlernte, ein
stolzer, bedächtiger, äußerst höflicher Mann,
recht hochgewachsen, ein breites Gesicht, die kurzen Haare noch
schwarz. Natürlich habe ich ihn nicht gut kennengelernt, nahm an
der Messe teil, die wie in allen östlichen Kirchen aus berückend
schönem Gesang bestand, und beobachtete, wie zugewandt er beim
anschließenden Mittagessen mit den Gläubigen und örtlichen
Honoratioren plauderte. Als alle Gäste verabschiedet waren, nahm
er mich für eine halbe Stunde mit in sein winziges Zimmer und
rückte für das Interview einen Stuhl neben das schmale
Bett, auf dem er selbst Platz nahm.
Nicht
nur seine Worte erstaunten mich – wie furchtlos er die
Regierung kritisierte, wie offen er auch über die Verhärtung
in der eigenen, christlichen Gemeinde sprach. Tiefer noch hat sich
mir seine Erscheinung eingeprägt: ein stiller, sehr
gewissenhafter, in sich gekehrter, auch asketischer Diener Gottes, so
nahm ich ihn wahr, der aber nun, da ihm Gott die Seelsorge der
bedrängten Christen in Qaryatein und die Führung der
klösterlichen Gemeinschaft auferlegt hatte, auch diese
öffentliche Aufgabe mit all seiner Kraft ausübte. Er sprach
leise und so langsam, die Augen meist geschlossen, als würde er
bewusst den Puls verlangsamen und das Interview als Atempause
zwischen zwei anstrengenderen Verpflichtungen nutzen. Zugleich sprach
er sehr überlegt, in druckreifen Sätzen, und was er sagte,
war von einer Klarheit und auch politischen Schärfe, dass ich
immer wieder nachfragte, ob es nicht zu gefährlich sei, ihn
wörtlich zu zitieren. Dann öffnete er die warmen, dunklen
Augen und nickte müde, ja, das könne ich alles drucken,
sonst hätte er es doch nicht gesagt; die Welt müsse
erfahren, was in Syrien geschieht.
Diese
Müdigkeit, das war auch ein starker, vielleicht mein stärkster
Eindruck von Pater Jacques – es war die Müdigkeit eines
Menschen, der mehr als nur eingesehen, nämlich bejaht hatte,
dass es Erholung vielleicht erst im nächsten Leben gibt, die
Müdigkeit eines Arztes und Feuerwehrmannes auch, der sich seine
Kräfte einteilt, wenn die Not überhandnimmt. Und ein Arzt
und Feuerwehrmann war Pater Jacques als Priester inmitten des Krieges
ja auch, nicht nur für die Seelen der Verängstigten, ebenso
für die Leiber der Bedürftigen, denen er in seiner Kirche
ungeachtet ihres Glaubens Essen, Schutz, Kleidung, Wohnstatt und vor
allem Zuwendung bot. Viele hundert, wenn nicht Tausende von
Flüchtlingen hat die Gemeinschaft von Mar Musa bis zuletzt in
ihrem Kloster beherbergt und versorgt, die allermeisten von ihnen
Muslime. Und nicht nur das – Pater Jacques gelang es,
wenigstens in Qaryatein den Frieden, auch den konfessionellen
Frieden, zu bewahren. Maßgeblich ihm ist es zu verdanken, dem
stillen, ernsten Pater Jacques, dass sich die verschiedenen Gruppen
und Milizen, manche regierungsnah, manche oppositionell, darauf
einigten, aus dem Städtchen alle schweren Waffen zu verbannen.
Und ihm gelang es, dem kirchenkritischen Priester, fast alle Christen
seiner Gemeinde zum Bleiben zu bewegen. „Wir Christen gehören
zu diesem Land, auch wenn das die Fundamentalisten weder bei uns noch
in Europa gern hören“, sagte Pater Jacques mir: „Die
arabische Kultur ist unsere Kultur!“
Bitter
stießen ihm die Aufrufe mancher westlicher Politiker auf,
gezielt arabische Christen aufzunehmen. Derselbe Westen, der sich
nicht um die Millionen Syrer schere, die quer durch alle Konfessionen
friedlich für Demokratie und Menschenrechte demonstrierten,
derselbe Westen, der den Irak zugrunde gerichtet und Assad sein
Giftgas geliefert habe, derselbe Westen, der mit Saudi-Arabien im
Bunde stehe und damit dem Hauptsponsor des Dschihadismus –
dieser gleiche Westen sorge sich nun um die arabischen Christen? Da
könne er nur lachen, sagte Pater Jacques, ohne eine Miene zu
verziehen. Und fuhr mit geschlossenen Augen fort: „Diese
Politiker befördern mit ihren unverantwortlichen Äußerungen
genau jenen Konfessionalismus, der uns Christen bedroht.“
Immer
größer wurde die Verantwortung, die Pater Jacques so
klaglos wie immer trug. Die ausländischen Mitglieder der
Gemeinschaft mussten Syrien verlassen und fanden Zuflucht im
Nordirak. Zurück blieben nur die sieben syrischen Mönche
und Nonnen, die sich auf die beiden Klöster Mar Musa und Mar
Elian verteilten. Ständig verschoben sich die Fronten, so dass
in Qaryatein mal der Staat, mal oppositionelle Milizen herrschten.
Mit beiden Seiten mussten sich die Mönche und Nonnen arrangieren
und dazu wie alle Bewohner die Luftangriffe überleben, wenn die
Kleinstadt gerade in den Händen der Opposition war. Dann aber
drang der „Islamische Staat“ immer weiter ins syrische
Kerngebiet vor. „Die Bedrohung durch den IS, dieser Sekte von
Terroristen, die ein fürchterliches Bild des Islams abgeben, ist
in unserer Gegend angekommen“, schrieb Pater Jacques wenige
Tage vor seiner Entführung an eine französische Freundin.
Und weiter: „Es ist schwierig zu entscheiden, was wir tun
sollen. Sollen wir unsere Häuser verlassen? Das fällt uns
schwer. Einzusehen, dass wir verlassen sind, ist fürchterlich –
verlassen zumal von der christlichen Welt, die beschlossen hat, auf
Distanz zu gehen, um die Gefahr von sich fern zu halten. Wir bedeuten
ihnen nichts.“
Allein
in diesen wenigen Zeilen einer bloßen, sicher eilig
geschriebenen Mail fallen zwei Formulierungen auf, die
charakteristisch sind für Pater Jacques und zugleich ein Maßstab
für jede Intellektualität. In dem ersten Satz heißt
es: „Die Bedrohung durch den IS, dieser Sekte von Terroristen,
die ein fürchterliches Bild des Islams abgeben...“ Der
andere Satz, über die christliche Welt: „Wir bedeuten
ihnen nichts.“ Er verteidigte die fremde Gemeinschaft und
kritisierte die eigene. Als die Gruppe, die sich auf den Islam beruft
und vorgibt, das Gesetz des Korans anzuwenden, ihn und seine Gemeinde
bereits unmittelbar physisch bedrohte, wenige Tage vor seiner eigenen
Entführung, betonte Pater Jacques noch, dass diese Terroristen
das wahre Gesicht des Islams entstellten. Ich würde jedem Muslim
widersprechen, dem angesichts des „Islamischen Staates“
nur die Floskel einfällt, dass die Gewalt nichts mit dem Islam
zu tun habe. Aber ein Christ, ein christlicher Priester, der damit
rechnen muss, von Andersgläubigen vertrieben, gedemütigt,
verschleppt oder getötet zu werden, und dennoch darauf beharrt,
diesen anderen Glauben zu rechtfertigen – ein solcher
Gottesdiener legt eine Größe an den Tag, die ich sonst nur
aus den Viten der Heiligen kenne.
Jemand
wie ich kann den Islam nicht auf diese Weise verteidigen. Er darf es
nicht. Die Liebe zum Eigenen – zur eigenen Kultur wie zum
eigenen Land und genauso zur eigenen Person – erweist sich in
der Selbstkritik. Die Liebe zum anderen – zu einer anderen
Person, einer anderen Kultur und selbst zu einer anderen Religion –
kann viel schwärmerischer, sie kann vorbehaltlos sein. Richtig,
die Liebe zum anderen setzt die Liebe zu sich selbst voraus. Aber
verliebt, wie es Pater Paolo und Pater Jacques in den Islam sind,
verliebt kann man nur in den anderen sein. Die Selbstliebe hingegen
muss, damit sie nicht der Gefahr des Narzissmus, des Selbstlobs, der
Selbstgefälligkeit unterliegt, eine hadernde, zweifelnde, stets
fragende sein. Wie sehr gilt das für den Islam heute! Wer als
Muslim nicht mit ihm hadert, nicht an ihm zweifelt, nicht ihn
kritisch befragt, der liebt den Islam nicht.
Es
sind nicht nur die schrecklichen Nachrichten und noch schrecklicheren
Bilder aus Syrien und dem Irak, wo der Koran noch bei jeder
Schweinetat hochgehalten und bei jeder Enthauptung „Allahu
akbar“ gerufen wird. Auch in so vielen anderen, wenn nicht den
meisten Ländern der muslimischen Welt berufen sich staatliche
Autoritäten, staatsnahe Institutionen, theologische Schulen oder
aufständische Gruppen auf den Islam, wenn sie das eigene Volk
unterdrücken, Frauen benachteiligen, Andersdenkende,
Andersgläubige, anders Lebende verfolgen, vertreiben,
massakrieren. Unter Berufung auf den Islam werden in Afghanistan
Frauen gesteinigt, in Pakistan ganze Schulklassen ermordet, in
Nigeria Hunderte Mädchen versklavt, in Libyen Christen geköpft,
in Bangladesch Blogger erschossen, in Somalia Bomben auf Marktplätzen
gezündet, in Mali Sufis und Musiker umgebracht, in Saudi-Arabien
Regimekritiker gekreuzigt, in Iran die bedeutendsten Werke der
Gegenwartsliteratur verboten, in Bahrein Schiiten unterdrückt,
im Jemen Sunniten und Schiiten aufeinander gehetzt.
Gewiss
lehnen die allermeisten Muslime Terror, Gewalt und Unterdrückung
ab. Das ist nicht nur eine Floskel, sondern das habe ich auf meinen
Reisen genau so erlebt: Wem die Freiheit keine Selbstverständlichkeit
ist, der ermisst erst recht ihren Wert. Alle Massenaufstände der
letzten Jahre in der islamischen Welt waren Aufstände für
Demokratie und Menschenrechte, nicht nur die versuchten, wenn auch
meist gescheiterten Revolutionen in fast allen arabischen Ländern,
ebenso die Protestbewegungen in der Türkei, in Iran, in Pakistan
und nicht zuletzt der Aufstand an den Wahlurnen der letzten
indonesischen Präsidentschaftswahl. Ebenso zeigen die
Flüchtlingsströme an, wo sich viele Muslime ein besseres
Leben erhoffen als in ihrer Heimat: jedenfalls nicht in religiösen
Diktaturen. Auch die Berichte, die uns aus Mossul oder Rakka selbst
erreichen, künden nicht von Begeisterung, sondern von Panik und
Verzweiflung der Bevölkerung. Alle maßgeblichen
theologischen Autoritäten der islamischen Welt haben den
Anspruch des IS verworfen, für den Islam zu sprechen, und im
Detail herausgearbeitet, inwiefern dessen Praxis und Ideologie dem
Koran und den Grundlehren der islamischen Theologie widersprechen.
Und vergessen wir nicht, dass es an vorderster Front Muslime selbst
sind, die gegen den „Islamischen Staat“ kämpfen,
Kurden, Schiiten, auch sunnitische Stämme und die Angehörigen
der irakischen Armee.
Das
muss man alles sagen, will man nicht dem Trugbild aufsitzen, das
Islamisten und Islamkritiker wortgleich entwerfen: Dass der Islam
einen Krieg gegen den Westen führt. Eher führt der Islam
einen Krieg gegen sich selbst, will sagen: wird die islamische Welt
von einer inneren Auseinandersetzung erschüttert, deren
Auswirkungen auf die politische und ethnische Kartographie an die
Verwerfungen des Ersten Weltkriegs heranreichen dürften. Den
multiethnischen, multireligiösen und multikulturellen Orient,
den ich in seinen großartigen literarischen Zeugnissen aus dem
Mittelalter studiert und während langer Aufenthalte in Kairo und
Beirut, als Kind während der Sommerferien in Isfahan und als
Berichterstatter im Kloster von Mar Musa als eine zwar bedrohte,
niemals heile, aber doch quicklebendige Wirklichkeit lieben gelernt
habe, diesen Orient wird es so wenig mehr geben wie die Welt von
gestern, auf die Stefan Zweig in den Zwanzigerjahren voller Wehmut
und Trauer zurückblickte.
Was
ist geschehen? Der „Islamische Staat“ hat nicht erst
heute begonnen und auch nicht erst mit den Bürgerkriegen im Irak
und in Syrien. Seine Methoden mögen auf Ablehnung stoßen,
aber seine Ideologie ist der Wahhabismus, der heute bis in die
hintersten Winkel der islamischen Welt wirkt und als Salafismus
gerade auch für Jugendliche in Europa attraktiv geworden ist.
Wenn man weiß, dass die Schulbücher und Lehrpläne im
„Islamischen Staat“ zu 95 Prozent identisch mit den
Schulbüchern und Lehrplänen Saudi-Arabiens sind, dann weiß
man auch, dass die Welt nicht nur im Irak und in Syrien strikt in
verboten und erlaubt eingeteilt wird - und die Menschheit in gläubig
und ungläubig. Gesponsert mit Milliardenbeträgen aus dem
Öl, hat sich über Jahrzehnte in Moscheen, in Büchern,
im Fernsehen ein Denken ausgebreitet, das ausnahmslos alle
Andersgläubigen zu Ketzern erklärt, beschimpft,
terrorisiert, verächtlich macht und beleidigt. Wenn man andere
Menschen systematisch, Tag für Tag, öffentlich herabsetzt,
ist es nur folgerichtig – wie gut kennen wir das aus unserer
eigenen, der deutschen Geschichte –, daß man schließlich
auch ihr Leben für unwert erklärt. Dass ein solcher
religiöser Faschismus überhaupt denkmöglich wurde,
dass der IS so viele Kämpfer und noch mehr Sympathisanten
finden, dass er ganze Länder überrennen und Millionenstädte
weitgehend kampflos einnehmen konnte, das ist nicht der Beginn,
sondern der vorläufige Endpunkt eines langen Niedergangs, eines
Niedergangs auch und gerade des religiösen Denkens.
Ich
habe 1988 angefangen, Orientalistik zu studieren, meine Themen waren
der Koran und die Poesie. Ich glaube, jeder, der dieses Fach in
seiner klassischen Ausprägung studiert, gelangt an den Punkt, an
dem er die Vergangenheit und die Gegenwart nicht mehr zusammenbringen
kann. Und er wird hoffnungslos, hoffnungslos sentimental. Natürlich
war die Vergangenheit nicht einfach nur friedlich und kunterbunt.
Aber als Philologe hatte ich vor allem mit den Schriften der
Mystiker, der Philosophen, der Rhetoriker und ebenso der Theologen zu
tun. Und ich, nein: wir Studenten konnten und können nur staunen
über die Originalität, die geistige Weite, die ästhetische
Kraft und auch humane Größe, die uns in der Spiritualität
Ibn Arabis, der Poesie Rumis, der Geschichtsschreibung Ibn Khalduns,
der poetischen Theologie Abdulqaher al-Dschurdschanis, der
Philosophie des Averroes, den Reisebeschreibungen Ibn Battutas und
noch in den Geschichten von Tausendundeiner Nacht begegnen, die
weltlich sind, ja, weltlich und erotisch und übrigens auch
feministisch und zugleich auf jeder Seite durchdrungen vom Geist und
den Versen des Korans. Das waren keine Zeitungsberichte, nein, die
soziale Wirklichkeit dieser Hochkultur sah wie jede Wirklichkeit
grauer und gewalttätiger aus. Und doch sagen diese Zeugnisse
etwas darüber aus, was einmal denkmöglich oder sogar
selbstverständlich war innerhalb des Islams. Nichts, absolut
nichts findet sich innerhalb der religiösen Kultur des modernen
Islams, das auch nur annähernd vergleichbar wäre, eine
ähnliche Faszination ausübte, von ebensolcher Tiefe wäre
wie die Schriften, auf die ich in meinem Studium stieß. Und da
spreche ich noch gar nicht von der islamischen Architektur, der
islamischen Kunst, der islamischen Musikwissenschaft – es gibt
sie nicht mehr.
Ich
möchte Ihnen den Verlust an Kreativität und Freiheit an
meinem eigenen Fachgebiet illustrieren: Es war einmal denkmöglich
und sogar selbstverständlich, dass der Koran ein poetischer Text
ist, der nur mit den Mitteln und Methoden der Poetologie begriffen
werden kann, nicht anders als ein Gedicht. Es war denkmöglich
und sogar selbstverständlich, dass ein Theologe zugleich ein
Literaturwissenschaftler und Kenner der Poesie war, in vielen Fällen
auch selbst ein Dichter. In der heutigen Zeit wurde mein eigener
Lehrer Nasr Hamid Abu Zaid in Kairo der Ketzerei angeklagt, von
seinem Lehrstuhl vertrieben und sogar zwangsgeschieden, weil er die
Koranwissenschaft als eine Literaturwissenschaft begriff. Das heißt,
ein Zugang zum Koran, der selbstverständlich war und für
den Nasr Abu Zaid die bedeutendsten Gelehrten der klassischen
islamischen Theologie heranziehen konnte, wird heute nicht einmal
mehr als denkmöglich anerkannt. Ein solcher Zugang zum Koran,
obwohl er der traditionelle ist, wird verfolgt und bestraft und
verketzert. Dabei ist der Koran ein Text, der sich nicht etwa nur
reimt, sondern in verstörenden, vieldeutigen, geheimnisvollen
Bildern spricht, er ist auch kein Buch, sondern eine Rezitation, die
Partitur eines Gesangs, der seine arabischen Hörer durch seine
Rhythmik, Lautmalerei und Melodik bewegt. Die islamische Theologie
hat die ästhetischen Eigenheiten des Korans nicht nur
berücksichtigt, sie hat die Schönheit der Sprache zum
Beglaubigungswunder des Islams erklärt. Was aber geschieht, wenn
man die sprachliche Struktur eines Textes missachtet, sie nicht
einmal mehr angemessen versteht oder auch nur zur Kenntnis nimmt, das
lässt sich heute überall in der islamischen Welt
beobachten. Der Koran sinkt herab zu einem Vademekum, das man mit der
Suchmaschine nach diesem oder jenem Schlagwort abfragt. Die
Sprachgewalt des Korans wird zum politischen Dynamit.
Oft
ist zu lesen, dass der Islam durch das Feuer der Aufklärung
gehen oder die Moderne sich gegen die Tradition durchsetzen müsse.
Aber das ist vielleicht etwas zu einfach gedacht, wenn die
Vergangenheit des Islams so viel aufklärerischer war und das
traditionelle Schrifttum bisweilen moderner anmutet als der
theologische Gegenwartsdiskurs. Goethe und Proust, Lessing und Joyce
haben schließlich nicht unter geistiger Umnachtung gelitten,
dass sie fasziniert waren von der islamischen Kultur. Sie haben in
den Büchern und Monumenten etwas gesehen, was wir, die wir oft
genug brutal mit der Gegenwart des Islams konfrontiert sind, nicht
mehr so leicht wahrnehmen. Vielleicht ist das Problem des Islams
weniger die Tradition als vielmehr der fast schon vollständige
Bruch mit dieser Tradition, der Verlust des kulturellen
Gedächtnisses, seine zivilisatorische Amnesie.
Alle
Völker des Orients haben durch den Kolonialismus und durch
laizistische Diktaturen eine brutale, von oben verordnete
Modernisierung erlebt. Das Kopftuch, um es an einem Beispiel zu
illustrieren, das Kopftuch haben die iranischen Frauen nicht
allmählich abgelegt – Soldaten schwärmten auf
Anordnung des Schahs 1936 in den Straßen aus, um es ihnen mit
Gewalt vom Kopf zu reißen. Anders als in Europa, wo die Moderne
bei allen Rückschlägen und Verbrechen doch als ein Prozess
der Emanzipation erlebt werden konnte und sich über viele
Jahrzehnte und Jahrhunderte vollzog, war sie im Nahen Osten
wesentlich eine Gewalterfahrung. Die Moderne wurde nicht mit
Freiheit, sondern mit Ausbeutung und Despotie assoziiert. Stellen Sie
sich einen italienischen Präsidenten vor, der mit dem Auto in
den Petersdom fährt, mit seinen schmutzigen Stiefeln auf den
Altar springt und dem Papst seine Peitsche ins Gesicht schlägt –
dann haben Sie eine ungefähre Vorstellung davon, was es
bedeutete, als Reza Schah 1928 mit seinen Reitstiefeln durch den
Heiligen Schrein von Ghom marschierte und auf die Bitte des Imams,
wie jeder Gläubige die Schuhe auszuziehen, dem Imam mit der
Peitsche ins Gesicht schlug. Und Sie fänden vergleichbare
Vorgänge und Schlüsselmomente in vielen anderen Ländern
des Nahen Ostens, die sich nicht langsam von der Vergangenheit
lösten, sondern diese Vergangenheit zertrümmerten und aus
dem Gedächtnis zu radieren versuchten.
Man
hätte annehmen können, dass wenigstens die religiösen
Fundamentalisten, die nach dem Scheitern des Nationalismus überall
in der islamischen Welt an Einfluss gewannen, die eigene Kultur
wertschätzen. Indes taten sie das Gegenteil: Indem sie zu einem
vermeintlichen Uranfang zurückkehren wollten, vernachlässigten
sie die Tradition nicht bloß, sondern bekämpften sie
dezidiert. Wir wundern uns nur deshalb über den Bildersturm des
„Islamischen Staates“, weil wir nicht mitbekommen haben,
dass in Saudi-Arabien praktisch überhaupt keine Altertümer
mehr stehen. In Mekka haben die Wahhabiten die Gräber und
Moscheen der engsten Prophetenangehörigen, ja selbst das
Geburtshaus des Propheten zerstört. Die historische Moschee des
Propheten in Medina wurde durch einen gigantischen Neubau ersetzt,
und wo bis vor wenigen Jahren noch das Haus stand, in dem Mohammed
mit seiner Frau Khadija wohnte, steht heute ein öffentliches
Klo.
Außer
mit dem Koran beschäftigte ich mich während des Studiums
hauptsächlich mit der islamischen Mystik, dem Sufismus. Mystik,
das klingt nach etwas Randseitigem, nach Esoterik, nach einer Art
Untergrundkultur. Nichts könnte mit Bezug auf den Islam falscher
sein. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war der Sufismus fast überall
in der islamischen Welt die Grundlage der Volksfrömmigkeit. Im
asiatischen Islam ist er es bis heute. Zugleich war die islamische
Hochkultur, insbesondere die Dichtung, die bildende Kunst und die
Architektur, durchdrungen vom Geist der Mystik. Als die geläufigste
Form der Religiosität bildete der Sufismus das ethische und
ästhetische Gegengewicht zur Orthodoxie der Rechtsgelehrten.
Indem er an Gott vor allem die Barmherzigkeit hervorhob, im Koran
hinter jeden Buchstaben sah, in der Religion stets die Schönheit
suchte, die Wahrheit auch in anderen Glaubensformen erkannte und
ausdrücklich vom Christentum das Gebot der Feindesliebe
übernahm, durchdrang der Sufismus die islamischen Gesellschaften
mit Werten, Geschichten und Klängen, die aus einer
Buchstabenfrömmigkeit allein nicht abzuleiten gewesen wären.
Der Sufismus als der gelebte Islam setzte den Gesetzesislam nicht
etwa außer Kraft, aber er ergänzte ihn, machte ihn im
Alltag weicher, ambivalenter, durchlässiger, toleranter und
durch die Musik, den Tanz, die Poesie vor allem auch sinnlich
erlebbar.
Kaum
etwas davon ist übrig geblieben. Wo immer die Islamisten Fuß
fassten, angefangen schon im 19. Jahrhundert im heutigen
Saudi-Arabien bis zuletzt in Mali, machten sie zuerst den sufischen
Festen ein Ende, verboten die mystischen Schriften, zerstörten
die Gräber der Heiligen, schnitten den sufischen Führern
die langen Haare ab oder töteten sie gleich. Aber nicht nur die
Islamisten. Auch den Reformern und religiösen Aufklärern
des 19. und frühen 20. Jahrhunderts galten die Traditionen und
Sitten des Volksislams als rückständig und veraltet. Nicht
etwa sie haben das sufische Schrifttum ernst genommen, sondern es
waren westliche Gelehrte, Orientalisten wie die Friedenspreisträgerin
von 1995, Annemarie Schimmel, die die Handschriften ediert und damit
vor der Vernichtung bewahrt haben. Und selbst heute noch beschäftigen
sich nur sehr wenige muslimische Intellektuelle mit dem Reichtum, der
in ihrer eigenen Tradition liegt. Die zerstörten, missachteten,
vermüllten Altstädte mit ihren ruinierten Baudenkmälern
überall in der islamischen Welt stellen den Verfall des
islamischen Geistes ebenso sinnbildlich dar wie die größte
Shopping-Mall der Welt, die in Mekka direkt neben der Kaaba gebaut
wurde. Das muss man sich vor Augen halten, das kann man auf Bildern
auch sehen: Das eigentliche Heiligtum des Islams, dieses so schlichte
und herrliche Bauwerk, in dem der Prophet selbst betete, wird
buchstäblich von Gucci und Apple überragt. Vielleicht
hätten wir weniger auf den Islam unserer Großdenker als
auf den Islam unserer Großmütter hören sollen.
Sicher,
in manchen Ländern hat man begonnen, Häuser und Moscheen zu
restaurieren, allerdings mussten erst westliche Kunsthistoriker oder
auch verwestlichte Muslime wie ich kommen, die den Wert der Tradition
erkannten. Und leider kamen wir ein Jahrhundert zu spät, als die
Gebäude bereits zerfallen, die Bautechniken vergessen und die
Bücher aus dem Gedächtnis radiert waren. Aber immerhin
glaubten wir, Zeit zu haben, um die Dinge gründlich zu
studieren. Inzwischen komme ich mir als Leser fast schon wie ein
Archäologe in einem Kriegsgebiet vor, der eilig und keineswegs
immer durchdacht die Relikte aufsammelt, auf dass spätere
Generationen sie wenigstens noch museal betrachten können. Wohl
bringen muslimische Länder immer noch überragende Werke
hervor, wie sich auf Biennalen, Filmfestivals und ebenso auf der
diesjährigen Buchmesse wieder zeigt. Aber mit dem Islam hat
diese Kultur kaum noch etwas zu tun. Es gibt keine islamische Kultur
mehr, jedenfalls keine von Rang. Was uns jetzt um die Ohren und auf
die Köpfe fliegt, sind die Trümmer einer gewaltigen
geistigen Implosion.
Gibt
es Hoffnung? Es gibt bis zum letzten Atemzug Hoffnung, lehrt uns
Pater Paolo, der Gründer der Gemeinschaft von Mar Musa. Hoffnung
ist das zentrale Motiv seiner Schriften. Am Tag nach der Entführung
seines Schülers und Vertreters strömten die Muslime von
Qaryatein ungefragt in die Kirche und beteten für ihren Pater
Jacques. Das muss auch uns Hoffnung geben, dass die Liebe über
die Grenzen der Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus wirkt. Der
Schock, den die Nachrichten und Bilder des „Islamischen Staats“
erzeugt haben, ist gewaltig, und er hat Gegenkräfte freigesetzt.
Endlich formiert sich auch innerhalb der islamischen Orthodoxie ein
Widerstand gegen die Gewalt im Namen der Religion. Und schon seit
einigen Jahren sehen wir, vielleicht weniger im arabischen Kernland
des Islams als vielmehr an den Peripherien, in Asien, in Südafrika,
in Iran, der Türkei und nicht zuletzt unter den Muslimen im
Westen, wie sich ein neues religiöses Denken entwickelt. Auch
Europa hat sich nach den beiden Weltkriegen neu geschaffen. Und
vielleicht sollte ich angesichts der Leichtfertigkeit, der
Geringschätzung und offenen Missachtung, die nicht nur unsere
Politiker, nein, die wir als Gesellschaft seit einigen Jahren dem
europäischen Projekt der Einigung entgegenbringen, dem politisch
Wertvollsten, was dieser Kontinent je hervorgebracht hat –
vielleicht sollte ich an dieser Stelle erwähnen, wie oft ich bei
meinem Reisen auf Europa angesprochen werde: als Modell, ja beinah
schon als Utopie. Wer vergessen hat, warum es Europa braucht, muss in
die ausgemergelten, erschöpften, verängstigten Gesichter
der Flüchtlinge blicken, die alles hinter sich gelassen, alles
aufgegeben, ihr Leben riskiert haben für die Verheißung,
die Europa immer noch ist.
Das
bringt mich zurück zur zweiten Formulierung Pater Jacques', die
ich bemerkenswert fand, zu seinem Satz über die christliche
Welt: „Wir bedeuten ihnen nichts.“ Als Muslim ist es
nicht an mir, den Christen in der Welt vorzuwerfen, sich – wenn
schon nicht um das syrische oder irakische Volk – nicht einmal
um ihre eigenen Glaubensgeschwister zu bekümmern. Und doch ist
es, was auch ich oft denke, wenn ich das Desinteresse unserer
Öffentlichkeit an der schon endzeitlich anmutenden Katastrophe
in jenem Osten erlebe, den wir uns durch Stacheldrahtzäune,
Kriegsschiffe, Feindbilder und geistige Sichtblenden fernzuhalten
versuchen. Nur drei Flugstunden von Frankfurt entfernt werden ganze
Volksgruppen ausgerottet oder vertrieben, Mädchen versklavt,
viele der wichtigsten Kulturdenkmäler der Menschheit in die Luft
gesprengt, gehen Kulturen und mit den Kulturen auch eine uralte
ethnische, religiöse und sprachliche Vielfalt unter, die sich
anders als in Europa noch bis ins 21. Jahrhundert einigermaßen
bewahrt hatte – aber wir versammeln uns und stehen erst auf,
wenn eine der Bomben dieses Krieges uns selbst trifft wie am 7. und
8. Januar in Paris, oder wenn die Menschen, die vor diesem Krieg
fliehen, an unsere Tore klopfen.
Es
ist gut, dass unsere Gesellschaften, anders als nach dem 11.
September 2001, dem Terror unsere Freiheit entgegengehalten haben. Es
ist beglückend zu sehen, wie viele Menschen in Europa und
besonders auch in Deutschland sich für Flüchtlinge
einsetzen. Aber dieser Protest und diese Solidarität, sie
bleiben noch zu oft unpolitisch. Wir führen keine breite
gesellschaftliche Debatte über die Ursachen des Terrors und der
Fluchtbewegung und inwiefern unsere eigene Politik vielleicht sogar
die Katastrophe befördert, die sich vor unseren Grenzen
abspielt. Wir fragen nicht, warum unser engster Partner im Nahen
Osten ausgerechnet Saudi-Arabien ist. Wir lernen nicht aus unseren
Fehlern, wenn wir einem Diktator wie General Sissi den roten Teppich
ausrollen. Oder wir lernen die falschen Lektionen, wenn wir aus den
desaströsen Kriegen im Irak oder in Libyen den Schluss ziehen,
uns auch bei Völkermord besser herauszuhalten. Nichts ist uns
eingefallen, um den Mord zu verhindern, den das syrische Regime seit
vier Jahren am eigenen Volk verübt. Und ebenso haben wir uns
abgefunden mit der Existenz eines neuen, religiösen Faschismus,
dessen Staatsgebiet etwa so groß ist wie Großbritannien
und von den Grenzen Irans bis fast ans Mittelmeer reicht. Nicht, dass
es einfache Antworten darauf gäbe, wie eine Millionenstadt wie
Mossul befreit werden könnte – aber wir stellen uns nicht
einmal ernsthaft die Frage. Eine Organisation wie der „Islamische
Staat“ mit hochgerechnet 30.000 Kämpfern ist für die
Weltgemeinschaft nicht unbesiegbar – sie darf es nicht sein.
„Heute sind sie bei uns“, sagte der katholische Bischof
von Mossul, Yohanna Petros Mouche, als er den Westen und die
Weltmächte um Hilfe bat, um den IS aus dem Irak zu vertreiben.
„Heute sind sie bei uns. Morgen werden sie bei euch sein.“
Ich
möchte mir nicht vorstellen, was noch geschehen muss, damit wir
dem Bischof von Mossul rechtgeben. Denn es gehört zur
propagandistischen Logik des „Islamischen Staates“, daß
er mit seinen Bildern eine immer höhere Stufe des Horrors
zündet, um in unser Bewusstsein zu dringen. Als wir uns nicht
mehr über einzelne christliche Geiseln erregten, die den
Rosenkranz beten, bevor sie geköpft werden, fing der IS an,
ganze Gruppen von Christen zu enthaupten. Als wir die Enthauptungen
von unseren Bildschirmen verbannten, fackelte der IS die Bilder aus
dem Nationalmuseum von Mossul ab. Als wir uns an zertrümmerte
Statuen gewöhnt hatten, begann der IS, ganze Ruinenstädte
wie Nimrod und Ninive zu planieren. Als wir uns nicht mehr mit der
Vertreibung der Yeziden beschäftigten, rüttelten uns kurz
die Nachrichten von Massenvergewaltigungen wach. Als wir glaubten,
der Schrecken beschränke sich auf den Irak und Syrien,
erreichten uns die Snuffvideos aus Libyen und Ägypten. Als wir
uns an die Enthauptungen und die Kreuzigungen gewöhnt hatten,
wurden die Opfer erst enthauptet und dann gekreuzigt, wie zuletzt in
Libyen. Palmyra wird nicht auf einmal, vielmehr Bauwerk und Bauwerk
gesprengt, im Abstand von Wochen, um jedes Mal ein neue Nachricht zu
produzieren. Das wird nicht aufhören. Der IS wird den Horror so
lange steigern, bis wir in unserem europäischen Alltag sehen,
hören und fühlen, dass dieser Horror nicht von selbst
aufhören wird. Paris wird nur der Anfang gewesen sein, und Lyon
nicht die letzte Enthauptung bleiben. Und je länger wir warten,
desto weniger Möglichkeiten bleiben uns. Anders gesagt, ist es
schon viel zu spät.
Darf
ein Friedenspreisträger zum Krieg aufrufen? Ich rufe nicht zum
Krieg auf. Ich weise lediglich darauf hin, dass es einen Krieg gibt –
und dass auch wir, als seine nächsten Nachbarn, uns dazu
verhalten müssen, womöglich militärisch, ja, aber vor
allem sehr viel entschlossener als bisher diplomatisch und ebenso
zivilgesellschaftlich. Denn dieser Krieg kann nicht mehr allein in
Syrien und im Irak beendet werden. Er kann nur von den Mächten
beendet werden, die hinter den befeindeten Armeen und Milizen stehen,
Iran, die Türkei, die Golfstaaten, Russland und auch der Westen.
Und erst wenn unsere Gesellschaften den Irrsinn nicht länger
akzeptieren, werden sich auch die Regierungen bewegen. Wahrscheinlich
werden wir Fehler machen, was immer wir jetzt noch tun. Aber den
größten Fehler begehen wir, wenn wir weiterhin nichts oder
so wenig gegen den Massenmord vor unserer europäischen Haustür
tun, den des „Islamischen Staates“ und den des
Assad-Regimes.
„Soeben
komme ich aus Aleppo zurück“, fuhr Pater Jacques in der
Email fort, die er wenige Tage vor seiner Entführung am 21. Mai
schrieb, „dieser Stadt, die am Fluss des Stolzes schläft,
die im Zentrum des Orients liegt. Sie ist jetzt wie eine Frau, die
von Krebs aufgefressen ist. Alle fliehen aus Aleppo, vor allem die
armen Christen. Dabei treffen diese Massaker nicht nur die Christen,
sondern das gesamte syrische Volk. Unsere Bestimmung ist schwer
umzusetzen, vor allem in diesen Tagen, an denen Pater Paolo
verschwunden ist, der Lehrer und Begründer des Dialogs im 21.
Jahrhundert. In diesen Tagen leben wir den Dialog als ein
gemeinschaftliches, gemeinsames Leiden. Wir sind traurig in dieser
ungerechten Welt, die einen Teil der Verantwortung für die Opfer
des Krieges trägt, dieser Welt des Dollars und des Euros, die
nur nach ihren eigenen Völkern, ihrem eigenen Wohlstand, ihrer
eigenen Sicherheit sieht, während der Rest der Welt hungers
stirbt und an Krankheiten und am Krieg. Es scheint, dass ihr einziges
Ziel ist, Gegenden zu finden, wo sie Kriege führen und den
Handel mit Waffen, mit Flugzeugen noch steigern können. Wie
rechtfertigen sich diese Regierungen, die die Massaker beenden
könnten, aber nichts tun, nichts. Ich bange nicht um meinen
Glauben, aber ich bange um die Welt. Die Frage, die wir uns stellen,
ist die folgende: Haben wir das Recht zu leben oder nicht? Die
Antwort ist schon da, denn dieser Krieg ist eine klare Antwort, so
klar wie das Licht der Sonne. Also ist der wahre Dialog, den wir
heute leben, der Dialog der Barmherzigkeit. Mut, meine Liebe, ich bin
bei Dir und umarme dich fest, Jacques.“
Zwei
Monate nach der Entführung von Pater Jacques, am 28. Juli 2015,
hat der „Islamische Staat“ die Kleinstadt Qaryatein
eingenommen. Die meisten Bewohner konnten im letzten Augenblick
fliehen, aber zweihundert Christen wurden vom IS entführt. Einen
weiteren Monat später, am 21. August, wurde das Kloster Mar
Elian mit Bulldozern zerstört. Auf den Bildern, die der IS ins
Internet gestellt hat, ist zu sehen, dass kein einziger der
tausendsiebenhundert Jahre alten Steine auf dem anderen geblieben
ist. Weitere zwei Wochen später, am 3. September, tauchten auf
einer Website des Islamischen Staates Fotos auf, die einige der
Christen aus Qaryatein in den ersten Stuhlreihen einer Schulaula oder
einer Festhalle zeigen, kahlgeschoren, manche bis auf die Knochen
abgemagert, ihre Blicke leer, sie alle von der Geiselhaft gezeichnet.
Auch Pater Jacques ist auf den Photos zu erkennen, in ziviler
Kleidung, ebenfalls kahlgeschoren und abgezehrt, deutlich wahrnehmbar
die Erschütterung in seinem Blick. Er hält sich die Hand
vor den Mund, als wolle er nicht wahrhaben, was er sieht. Auf der
Bühne der Aula sitzt ein breitschultriger, langbärtiger
Mann in Kampfuniform, der einen Vertrag unterzeichnet. Es ist ein
sogenannter Dhimmi-Vertrag, der die Christen der Herrschaft der
Muslime unterwirft. Sie dürfen keine Kirche und keine Klöster
bauen, kein Kreuz und ebensowenig eine Bibel mit sich führen.
Ihre Priester dürfen keine Priesterkleidung tragen. Die Muslime
dürfen die Gebete der Christen nicht hören, ihre Schriften
nicht lesen und ihre Kirchen nicht betreten. Die Christen dürfen
keine Waffen tragen und müssen bedingungslos den Anweisungen des
„Islamischen Staats“ gehorchen. Sie müssen sich
ducken, müssen klaglos jede Ungerechtigkeit ertragen und
außerdem eine Kopfsteuer zahlen, die Dschizya, damit sie leben
dürfen. Es wird einem schlecht, wenn man diesen Vertrag liest.
Er teilt die Geschöpfe Gottes ganz offensichtlich in Menschen
erster und zweiter Klasse auf und lässt keinen Zweifel, dass es
außerdem Menschen dritter Klasse gibt, deren Leben noch weniger
gilt.
Es
ist ein ruhiger, aber ganz und gar deprimierter, hilfloser Blick, den
uns Pater Jacques auf dem Foto zuwirft, während er die Hand vor
den Mund hält. Mit dem eigenen Martyrium hatte er gerechnet.
Aber dass seine Gemeinde in Gefangenschaft geriet, die Kinder, die er
getauft, die Liebenden, die er miteinander vermählt, die Alten,
denen er die letzte Ölung versprochen hat, das muss ihn um den
Verstand bringen, selbst den bedächtigen, innerlich so starken,
gottergebenen Pater Jacques um den Verstand. Seinetwegen waren die
Entführten schließlich in Qaryatein geblieben, statt wie
so viele andere Christen aus Syrien zu fliehen. Pater Jacques wird
denken, dass er Schuld auf sich geladen hat. Aber Gott, das weiß
ich, Gott wird anders über ihn urteilen.
Gibt
es Hoffnung? Ja, es gibt Hoffnung, es gibt immer Hoffnung. Ich hatte
diese Rede bereits geschrieben, als mich vor fünf Tagen, am
Dienstag, die Nachricht erreichte: Pater Jacques Mourad ist frei.
Bewohner des Städtchens Qaryatein haben ihm zur Flucht aus
seiner Zelle verholfen, sie haben ihn verkleidet und mit Hilfe von
Beduinen aus dem Gebiet des „Islamischen Staates“
geschafft. Inzwischen ist er zu seinen Brüdern und Schwestern
der Gemeinschaft von Mar Musa zurückgekehrt. Offenbar waren
zahlreiche Menschen an der Befreiung beteiligt, sie alle Muslime, und
jeder einzelne von ihnen hat sein Leben für einen christlichen
Priester riskiert. Die Liebe hat über die Grenzen der
Religionen, Ethnien und Kulturen hinaus gewirkt. So herrlich, ja, im
Wortsinn wunderbar diese Nachricht ist, so überwiegt dennoch die
Sorge, am brennendsten bei Pater Jacques selbst. Denn das Leben der
zweihundert anderen Christen von Qaryatein dürfte nach seiner
Befreiung erst recht in Gefahr sein. Und auch von seinem Lehrer Pater
Paolo, dem Gründer der christlichen Gemeinschaft, die den Islam
liebt, fehlt weiterhin jede Spur. Es gibt bis zum letzten Atemzug
Hoffnung.
Ein
Friedenspreisträger soll nicht zum Krieg aufrufen. Doch darf er
zum Gebet aufrufen. Meine Damen und Herren, ich möchte Sie um
etwas Ungewöhnliches bitten – obwohl es so ungewöhnlich
in einer Kirche dann auch wieder nicht ist. Ich möchte Sie
bitten, zum Schluss meiner Rede nicht zu applaudieren, sondern für
Pater Paolo und die zweihundert entführten Christen von
Qaryatein zu beten, den Kindern, die Pater Jacques getauft, die
Liebenden, die er miteinander vermählt, den Alten, denen er die
Letzte Ölung versprochen hat. Und wenn Sie nicht religiös
sind, dann seien Sie doch mit Ihren Wünschen bei den Entführten
und auch bei Pater Jacques, der mit sich hadert, weil nur er befreit
worden ist. Was sind denn Gebete anderes als Wünsche, die an
Gott gerichtet sind? Ich glaube an Wünsche und dass sie mit oder
ohne Gott in unserer Welt wirken. Ohne Wünsche hätte die
Menschheit keinen der Steine auf den anderen gelegt, die sie in
Kriegen so leichtfertig zertrümmert. Und so bitte ich Sie, meine
Damen und Herren, beten Sie für Jacques Mourad, beten Sie für
Paolo Dall'Oglio, beten Sie für die Christen von Qaryatein,
beten Sie oder wünschen Sie sich die Befreiung aller Geiseln und
die Freiheit Syriens und des Iraks. Gern können Sie sich dafür
auch erheben, damit wir den Snuffvideos der Terroristen ein Bild
unserer Brüderlichkeit entgegenhalten.
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