Demokratische Qualitätskriterien
Michael Seibel • Alltägliche Formen des (Mit-)Entscheidens (Last Update: 31.08.2018)
Ist die Demokratie überhaupt etwas, das stabil oder nicht stabil sein kann oder bezieht sich die Frage nach Stabilität und Gefährdung nicht vielmehr auf den Staat oder die bestehende Sozialordnung? Die Demokratie ist eine Form, eine Staatsform, ein Set von Verfahren und öffentlichen Diskussionen, das historisch und lokal recht weit variiert. Aber welche? Lincoln formuliert: "government of the people, by the people, for the people." Das ist die berühmte Gettysburg-Formel von 1863. Sie ist nicht gerade präzise.
Der US-amerikanische Anthropologe und Mitbegründer der Ethnologie Lewis Henry Morgan meinte 1878, geradezu ein Idealbild von Demokratie gelebter Gleichheit durchgängig in vorantiken Urgesellschaften zu finden. Er formuliert in der Begrifflichkeit der Französischen Revolution:
„Liberty, equality, and fraternity, though never formulated, were cardinal principles of the gens. These facts are material, because the gens was the unit of a social and governmental system, the foundation upon which indian society was organized.“1
Und im selben Zusammenhang:
„The
Council of Chiefs represents the ancient method of evolving the
wisdom of mankind an applying it to human affairs. Its history,
gentile, tribale and confederate would express the growth of the idea
of government in its whole development, until political society
supervened into which the council, changed into a senat, was
transmitted.
The
simplest and lowest form of the council was that of the gens. It was
a democratic assembly because every adult male and female member had
a voice upon al questions brought before it. It elected an deposed
its sachem and chiefs, it elected Keepers of the Faith, it condoned
or avanged the murder of a gentilis, and it adopted persons into a
gens. It was the germ of the higher council of the tribe, an of that
still higher of the confederacy, each of which was composed
exclusively of chiefs as representativs of the gents.“2
Qualitätskriterien -
Das gesellschaftliche
Gute
Die Vorstellung, die Demokratie könne gefährdet sein, setzt voraus, dass so etwas wie ein gesellschaftliches Gutes existiert – oder, vorsichtiger ausgedrückt, als regulative Idee gedacht werden kann, – und dass die Demokratie dieses Gute ideal verwirklicht. Ein solches gesellschaftliches Gutes allerdings ist in der gedanklichen Kurzformel der französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit gedacht. Es wäre aus Sicht eines Thomas Hobbes absurd, davon zu sprechen, der Bürgerkrieg sei gefährdet, denn das Schlechte kann nicht gefährdet sein, es kann nur selbst eine Gefahr darstellen. Aber selbst was den Krieg angeht, hat man sich von einem Ernst Jünger anhören müssen, er wecke im „Stahlgewitter“ menschliche Kräfte, die ohne ihn verkümmern würden.
Wo seit der Antike geistesgeschichtlich überhaupt ausnahmsweise für die Demokratie als Staatsform optiert wird, - die meisten großen Theoretiker des Politischen von Platon bis Hegel waren Gegner der Demokratie - wird Demokratie nicht als gelebte soziale Wirklichkeit im Sinn Morgans gesehen, sondern als eine besondere Form gesellschaftlicher Herrschaftsbeziehungen. Freiheit und Gleichheit werden ausnahmslos nicht als faktische Gegebenheiten, sondern als Ziele verstanden. Theoretiker sind sich selten einig, aber in diesem Punkt sind sie es.
Der Abstand zwischen dem Ideal direkter face-to-face Demokratie und denkbaren adäquaten Herrschaftsformen in einer globalen Weltgesellschaft, den die Demokratie als Form zu überbrücken hat, dürfte kaum je größer gewesen sein als heute. Und viel spricht dafür, dass heute immer weniger politische Entscheidungen von demokratisch legitimierten Institutionen oder Akteuren getroffen werden und immer mehr in informellen Verhandlungsrunden, Expertengremien und Politiknetzwerken. Die politischen Akteure, allen voran der Wähler selbst, scheinen ein verändertes Gewicht zu bekommen.
Woran also wollen wir messen, ob von einer Gefährdung der Demokratie zu sprechen ist? An den Merkmalen einer Form – in wieweit politische Mitentscheidungsmöglichkeiten auf alle Bürger gleich verteilt sind – oder nach näher zu bestimmenden Kriterien des gesellschaftlich Guten – ob z.B. die demokratische Gesellschaft ihre inneren Spannungen gewaltfrei bewältigt oder sich die Chancen des Einzelnen, in Gesellschaft ein gutes Leben zu führen, wie immer auch das nun wieder zu bestimmen sei, erhöhen oder vermindern. Die Frage, was unter einem guten Leben zu verstehen sei, ist in der Philosophie notorisch strittig. Sie wäre es nicht, gehörte sie nicht neben denen, die sich aus der Verwunderung beim Blick in den Himmel ergeben, zu den interessantesten Menschheitsfragen überhaupt. Die Frage nach den Gefährdungen der Demokratie wird zugleich eine Frage nach den nicht mehr nur formalen Kriterien sein, an denen sie sich erkennen ließe. Ist die Demokratie in Gefahr, wenn der Präsident für die Dauer seines Lebens oder auf vier Jahre gewählt wird statt wie der Konsul in alten Rom jährlich – was dort schon nicht geklappt hat – oder wenn der Kanzler durch konstruktives Misstrauensvotum jederzeit absetzbar ist? Wenn das eine Frage nach der Form ist und nach nichts sonst, ist die Sache klar: mehr Mitbestimmung wäre mehr Demokratie, weniger wäre Gefährdung. Ideal wäre direkte Demokratie in sämtlichen politischen Fragen. Alle entscheiden alles, was überhaupt der Entscheidung bedarf, gemeinsam. So unmöglich das streng genommen ist, so sehr stimmt, dass sich gerade heute im Zeitalter der Netze, die technischen und informationellen Möglichkeiten, gemeinsam zu entscheiden, dramatisch ändern. Die physische Möglichkeit, gemeinsam zu entscheiden, hängt ab von der Zahl der Entscheider, deren Möglichkeit zusammenzukommen und Anzahl und Komplexität der anstehenden Entscheidungen. Wer die Möglichkeit hat, so gut wie alles über den Anderen zu wissen, was überhaupt diskursfähig ist, hat auch die Möglichkeit, ihn mitentscheiden zu lassen. Diese Möglichkeit mag es im mittelalterlichen Dorf mit seinen im Durchschnitt zwanzig Häusern ohne die Privatsphäre der Moderne ohne weiteres gegeben haben. Sie wurde kaum genutzt. Die christliche Welt war eine hierarchische Welt. Die technischen Möglichkeiten, eine ähnliche Transparenz des Anderen, jedoch diesmal auf der Grundlage von Millionen von Menschen herzustellen, haben zugenommen. Gefährdung der Demokratie hieße hier, sie nicht zu nutzen.
Wenn nach Gefahren der Destabilisierung der Demokratie vor dem Hintergrund des Populismus gefragt wird, interessiert besonders, wie und wodurch sich Einflussmöglichkeiten und Erwartungen der Wähler an die politische Entscheidungsfindung verändern.
Eins jedenfalls fällt schwer: Unter dem Begriff Demokratie mit Morgan einen irgendwie bereits definierten, augenfällig verbindenden Inhalt zu verstehen, material facts, die das Zusammenleben prägen.
Formen des (Mit-)Entscheidens
Mir bleibt also nicht viel mehr über, als unter Demokratie zunächst eine Form zu verstehen, wie kollektive Entscheidungen getroffen werden. Jeder hat eine Stimme. Demokratie macht Gleichheit zur Form politischer Entscheidungen, 'formale Gleichheit'. Berechtigt mitzubestimmen ist in der Demokratie jeder erwachsene staatszugehörige Bürger. Diese Voraussetzung ist nicht unwesentlich und nicht formal notwendig. Es könnte auch wirklich jeder sein, ob erwachsen oder noch ganz jung, ob Bürger oder Gast, jeder, der mitbestimmen möchte. Wenn es wirklich nur um Gleichheit ginge, wäre Demokratie erst dann perfekt. Sonst macht die Demokratie als Form keine Voraussetzungen in Sachen Mitbestimmung.
Diese Form, die demokratische, wirkt geradezu surreal und wirklichkeitsfern, wenn man vergleicht, wie sonst im Alltagsleben, in der Historie, in sozialen Gemeinschaften, in Wissenschaften, in Unternehmen oder auf den Märkten entschieden wird. Normalerweise gibt es unterscheidende, die Gleichheit aufhebende Kriterien dafür, wer mitentscheiden darf und wer nicht. Normalerweise sollen kollektive Entscheidungen zielführend sein. Entscheidungen in Unternehmen werden üblicherweise hierarchisch getroffen und sind an den Unternehmenszielen ausgerichtet. Von Entscheidern wird erwartet, dass sie die Tragweite der anstehenden Entscheidungen verstehen und die Ziele teilen, dass ihre leitenden Einsichten begrifflich konsistent sind und dass sie persönlich die entsprechenden Kompetenzen mitbringen. Mitentscheiden hat also regelmäßig materiale Konditionen neben formalen, und die formalen sind zumeist nicht demokratisch, sondern fast immer hierarchisch und an Eigentumsverhältnisse gebunden oder zumindest an unterschiedliche Grade des Involvement.
Entscheidungen im Wissenschaftsbetrieb tragen heute das Doppelgesicht einer fiktiven idealen Diskursgemeinde, in der jeder gleiche Rechte hat, solange er sie nicht voluntaristisch in Anspruch nimmt, sondern rein nach sachlichen Gesichtspunkten entscheidet. Idealerweise teilt jedermann die selbe Rationalität und hört auf zwingende Gründe, denn die Fachausbildung, die jeder genossen hat, folgt ungefähr den gleichen Prinzipien. Das Recht ist demnach nicht auf Seiten einer bloß zahlenmäßigen Mehrheit, sondern auf der des wiederholbaren Experiments. Gatekeeper ist eine Hierarchie von Gutachtern, die über die Veröffentlichung von Forschungsergebnissen entscheidet.
Dafür stehen Zeitschriften wie science oder nature, deren Reputation sich nicht zuletzt an der Zahl der abgelehnten Beiträge misst.
Auf der griechischen Agora hätten sich demgegenüber freie Bürger getroffen, Männer ab 30, keine Sklaven, keine Frauen oder Zugereiste, nur Männer mit Grundbesitz und eigenem oikos. Sie hätten in freier Rede die Dinge verhandelt und entschieden, die „dem Gemeinwesen gut tun“3 Sie hätten Ämter auf Zeit mittels Losverfahren vergeben, - eine bedenkenswerte Idee. Nur bei ihren Feldherrn hätten sie auf spezielle militärische Kompetenzen gesetzt und sie ungünstigenfalls in 10-jährige Verbannung geschickt, sollte die Schlacht aufgrund ihrer Unfähigkeit verloren gehen. Diese auf kaum 10% der Bevölkerung begrenzte direkte Demokratie dürfte bei ihren Entscheidungen kein grundsätzliches Kompetenzproblem gehabt haben. Schließlich wusste jeder Mitentscheider als freier Hausherr, worum es ging, und ihre zufällig ausgewählten Beamten wussten es nicht besser. Man darf sich vorstellen, dass Beratung, Sachentscheidung und Kontrolle bei dieser Frühform öffentlicher Meinungsbildung eng ineinandergriffen.
Was heute in der repräsentativen Parteiendemokratie Öffentliche Meinung oder Öffentlichkeit heißt, ist völlig anders strukturiert und hat andere Funktionen und Möglichkeiten, obwohl die Phantasie immer noch breit kolportiert wird, sie sei der Ort von Information, Kontrolle und Entscheidung. Die entsprechende Differenzierung wird unten vorgenommen.
Extremes ubiquitäres Gegenbild zu all diesen Formen des Entscheidens ist die Autonomie des Kunden auf den diversen Märkten. Hier entscheidet der Einzelne und sonst niemand. Natürlich ist der autonome Entscheider nicht der Mensch aus Hirn und Herz, sondern die Abstraktion des zugleich mit Präferenzen und Geld ausgestatteten Homo Oeconomicus, dessen Abstraktheit ebenfalls nichts anderes ist als die Vorstellung einer bestimmten gesellschaftlichen Form. Autonomie ist auch hier nicht mehr als eine Form wie Demokratie oder Hierarchie. Das wird unmittelbar augenfällig, wenn man danach fragt, wie der Homo Oeconomicus an seine Präferenzen kommt oder man ihn in einem Augenblick aufsucht, in dem ihm das Geld ausgegangen ist.
Autonomie, Hierarchie, Demokratie, das sind Formen. Es macht keinen Sinn zu fragen, wie stabil Formen sind. Ein Kreis ist ein Kreis ist ein Kreis. Wenn man ihn verbeult, ist es kein Kreis mehr. Interessant ist nicht die Frage, ob Demokratien stabil sind, sondern ob es gleichsam die substantielle Eigenschaft von Gesellschaften auf bestimmten kulturellen oder technischen Entwicklungsniveaus sein kann, dass die Entscheidungsfindung ihrer Mitglieder die Form einer Demokratie hat.
Man wird schnell entdecken und hat es längst, dass das nicht so ist und auch nicht so sein kann, selbst dann nicht, wenn der Gesetzgeber sich wie beim Grundgesetz fest vornimmt, dem deutschen Volk die Demokratie gleichsam in die politische DNA zu schreiben und es jeder möglichen politischen Mehrheit, selbst einer 100% igen verbietet, Demokratie, Grundrechte und Föderalismus jemals wieder abzuschaffen, so die Ewigkeitsgarantie in §79 GG, die ein Postulat ist und kein substantialistischer Irrtum.
Dieses Postulat ist deshalb interessant, weil es die Demokratie beschneidet, die es zu schützen vorgibt, statt sie zu maximieren. Angenommen, alle Wähler bis auf einen würden beschließen, die Demokratie zugunsten einer anderen Form abzuschaffen, welche demokratische Legitimation hätte dann die eine verbleibende Stimme, die an die gegebene Ewigkeitsgarantie erinnert? Wir bekämen von ihr noch einmal alle Argumente zu hören, die bereits beim Zustandekommen der Ewigkeitsgarantie leitend waren, dass allein die Demokratie das Wohl der Gemeinschaft garantiere und dass uns nur die Demokratie vor Totalitarismus schütze. Aus der Demokratie wäre eine platonische Philosophenherrschaft dieses einen geworden, der da spricht. Dieser eine könnte z.B. das Verfassungsgericht sein. Die Gefahr, dass die Gerichte ihren Auftrag dem Gesetzgeber gegenüber in diese Richtung überziehen, wird in Deutschland vom Verfassungsgericht auch eingeräumt und berücksichtigt.
Aber ein anderes Szenario, so hypothetisch es gegenwärtig noch zu sein scheint, dürfte mindestens ebenso bedenkenswert sein. Gesetzt, diese hypothetische eine Stimme könnte durchsetzbar sein, weil sie über einen erheblichen Anteil des Volksvermögens verfügt. Gesetzt, die eine verbleibende Stimme sei Alleinaktionär von Apple mit einem aktuellen Börsenwert von 1 Billion Dollar, so wäre ihr nominelles Vermögen größer als das jeweilige Bruttoinlandsprodukt von 90% aller Staaten. Sie hätte durchaus die Mittel. Das hieße allerdings zugleich, dass der Demos, dem man verbietet, sich selbst abzuschaffen, nicht in der Lage war, seine eigene Relativierung und Gefährdung durch die Monopolisierung von Vermögen zu verhindern.
Könnte es sein, dass eine der Gefährdungen der Demokratie gerade in der Vorstellung sichtbar wird, sie garantieren zu können? Es ist kein Merkmal der Demokratie als Form, dass sie vom Demos nicht abgeschafft werden darf. Im Gegenteil, eine vollständige Demokratie müsste sich auch selbst abschaffen können. Jemand, der auf der Nichtabschaffbarkeit der Demokratie besteht, besteht letztlich darauf, dass der Demos, das Wahlvolk, zwar die Wahl treffen kann, die Demokratie abzuschaffen, dass es aber nicht über die Mittel verfügt, das auch zu tun. Aber wenn es nicht über die Mittel verfügt, die Demokratie abzuschaffen, wie dann über die Mittel, sie zu gestalten? Wer oder was gestaltet also die Demokratie, wenn nicht sie selbst?
Der deutschen Staatsrechters Ernst-Wolfgang Böckenförde hat in den 70er-Jahren dazu Stellung genommen:
„Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des Einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.“ 3b
... die moralischen Substanz des Einzelnen? Man ist gezwungen, sich zu fragen, was hier beschworen wird, wenn der Gesellschaft die Homogenität, von der Böckenförde sprach, verlorengeht.
Anmerkungen:
1 Lewis
Henry Morgan, Ancient Society or Researches in the Lines of Human
Progress from Savagery through Barbarism to
Civilisation, NY. 1878, S. 85 f.
Übers.: „Freiheit,
Gleichheit und Brüderlichkeit, obwohl nie so formuliert, waren
die zentralen Prinzipien der gens. Diese Fakten sind materiell
wirksam, weil der gens die Einheit eines Sozial- und
Verwaltungssystems war und die Grundlage, auf der die indianische
Gesellschaft organisiert war.“
2 ebd, S. 85
3 Aristoteles, Pol. III, 1279, 9 f.
3b Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Frankfurt 1976, S. 60
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