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Anamnesis. Wo kommt das Wissen her?

Franz Rieder • Anamnesis: Vergessen. Erinnern. Lernen. Wissen.   (Last Update: 19.11.2019)

Nietzsche berührt auch noch einen anderen wunden Punkt in der von Aristoteles weitgehend übernommenen platonischen Anamnesis Lehre, insofern der Kunstgenuss nicht vom Werk selbst, sondern aus der Sphäre eines (onto-logischen) Schlusses herrührt, nämlich: „…’dies ist jenes‘, so daß also eine Art Lernen stattfindet.“i. Kunst wirkt demnach als eine Art ins Bewusstsein treten lassen von etwas, das bereits gelernt, bzw. vorbewusst bekannt ist. Der Rezipient erkennt im Kunstwerk etwas von jenen Ideen wieder, die der Künstler beim Schaffen des Werkes vor seinen Augen bzw. in seinen Vorstellungen gehabt hat. Aber in der Identifikation des ‚dies ist jenes‘ findet alles andere als Lernen statt, vielleicht gerade noch eins, das viel gemein hat mit früh-kindlichem Lernen.

Auch auf diesem Feld der Erkenntnistheorie bleibt es bei der Aufspaltung von Idee (Sein) und Form (Seiendes) und der daraus folgenden Abbildtheorie, die Platons Anamnesis-Konzept (auch Anamnese, griechisch νάμνησις anámnēsis „Erinnerung“) in den Dialogen Menon, Phaidon und Phaidros trägt und eine zentrale Rolle in seiner Erkenntnistheorie und Seelenlehre spielt. Dem zufolge ist alles Wissen in der unsterblichen Seele immer schon vorhanden, wird aber bei der Geburt des Menschen vergessen – ein interessanter Aspekt für Kreationisten auf der einen und Entwicklungsbiologen auf der anderen Seite. Der menschliche Intellekt erschafft kein neues Wissen, sondern erinnert sich nur an das einst vergessene und jede Erkenntnis beruht somit auf Erinnerung. Konsequent gedacht steht das Wissen der Seele (individuelle) zwar immer potentiell zur Verfügung, kann aber von sich aus keinen Zugriff darauf haben, denn sonst würde sie dieses Wissen einfach abzurufen und verfügte fortan darüber. Die individuelle Seele braucht also Hilfe von außen. Ein Zugang entsteht also erst, wenn das vergessene Wissen durch äußere Anstöße wieder in das Bewusstsein zurückgerufen wird. Dies kann wie wir sahen durch Kunst geschehen oder durch Anstöße, die ein Lehrer seinen Schülern gezielt verabreicht – wir sehen hier extrinsische Motivation bzw. Pädagogik am Werk – erst dann erinnert sich die arme Seele des Lernenden an etwas, das ihr eigentlich bereits vertraut ist.

Kunst und Fertigkeit, etwas mit bewußter richtiger Überlegung hervorzubringen, sind ein und dasselbe.“ii. Wenn etwas bewusst ist und aus richtiger Überlegung kommt, dann ist es auch lehr- bzw. vermittelbar und zwar in einer Weise, die nicht lernt durch anschauen und nachmachen, sondern in einem wissenschaftlich-theoretischen Sinne, da ja die richtigen Überlegungen über-individuellen Regeln entsprechen. Wir haben gesehen, dass Aristoteles uns keine brauchbare Bestimmung dessen, was Kunst ist, hinterlassen hat. Somit ist auch eine Differenzierung zwischen Kunst, Handwerk und Wissenschaft schwierig. Generell kann man sagen, dass seine Aussagen über Kunst (téchne, lat. ars) cum grano salis für das Handwerk, das Gewerbe, für die technische Produktion und die Wissenschaft als solche gelten. Nehmen wir den Handwerker und fragen ihn, wie Sokrates es so gerne machte, wie er seine Arbeit mache, dann weiß er keine Antwort, denn er erledigt das alles eher in Routine und sein Bewusstsein davon bleibt dunkel bis leer.

Für etwaige Erklärungsversuche stünde dann eher der Architekt zur Verfügung, der in der Regel auch die Regeln besser kennt, sie mitteilen und lehren kann. Aber ist er deshalb schon ein Künstler? Zumal er dann doch nicht so genau in der Fertigung ist, ihm nicht selten an der Techne doch einiges fehlt. Der Künstler, insofern er nach Aristoteles die Idee in sich bzw. in seiner Seele trägt und sie demnach auch kennt, seine Techne nach dieser schafft, verbindet ihn mit der epistéme theoretiké, der Wissenschaft.

Hier sehen wir eine der heiteren Auswirkungen der Hinwendung des Denkens zur Wissenschaft, wie sie heute allenthalben zum Ausdruck gebracht wird. Der Handwerker wird stets und nicht zu Unrecht behaupten: was soll die schönste Theorie, in der alles wunderbar stimmt, wenn es am Ende dann doch nicht funktioniert? Und was soll, wenn es funktioniert, die Frage, warum es hier funktioniert? Was wir heute zudem im Bauhandwerk feststellen, ist, dass immer mehr Architekten z. B. Wendeltreppen mittels CAD-Programmen in die Baupläne einsetzen und die Handwerker dann feststellen, dass das Programm, damit es passt und stimmt, die Treppe gedehnt und gestaucht hat und das Bauamt sie am Ende wegen baulicher Mängel nicht abnimmt.




Vom Primat des Denkens vor dem Handwerk


Aristoteles hat, indem er den Primat des Denkens vor dem Handwerk postulierte, dieses auch als „banausisch“ abgewertet und ganz besonders hat es dabei die Instrumentalmusik getroffen, die ein Mann nicht ausüben sollte, es sein denn „im Rausche oder zum Scherz.“iii.

Warum er aber die Ärzte hier explizite ausnimmt, “…von denen (ist) der eine ein Handwerker, der andere ein Künstler und der dritte ein Kenner (Wissenschaftler) in diesem Fache. Solche Unterscheidungen könnte man in allen Berufen vornehmen.“iv. Warum er also andererseits dem Handwerk als einzigem Gewerbe diese Qualität abspricht, es also nicht zu „allen Berufen“ zählt, bleibt sein Geheimnis. Der Kunstbegriff bei Aristoteles ist abschließend schwer zu bestimmen, als davon die Rede ist, dass Kunst zur Abbildung von Natur etwas Idealisierendes vollbringt. Gewissermaßen die verstreuten Teile des Schönen in einem Akt des Bewusstseins regelgerecht zu einem Werk zusammenfügt, welches hernach etwas vom Ideal des Schönen zeigt. Wir erinnern uns, ging es Platon um das Allgemeine, Abstrakte, die Ideen und das Prinzip der natürlichen Dinge, so fokussiert Aristoteles auf die Natur als etwas Einzelnes, Konkretes. Kunst also ist Nachbildung und idealisierende Darstellung dieses Einzelnen und Konkreten und setzt natürlich eine sinnliche Erfahrung voraus, der Platon allenfalls den Status des „Scheins“ zubilligte. Wollte Platon die konkreten Dinge der sinnlichen Erfahrung, die Welt des Scheins, durch die Idee als eigentliche Wirklichkeit, also mit dem geistigen Auge gesehen wissen, so votiert Aristoteles für ein „unmittelbares“ Erlebnis des Schönen in den Dingen selbst (Grundlage der Ästhetik). Alles kann prinzipiell schön sein, sogar das Wiedererkennen der Abbildlichkeit von Bildern kann eine neue Quelle des Schönen sein, die dem Denken entgegensprudelt.

Zwischen diesen beiden kunstphilosophischen Positionen ist der Hiatus leicht zu erkennen, der bis heute den grundlegenden Richtungsstreit in der Kunstphilosophie bzw. deren Spezialdisziplin Ästhetik beherrscht.


Die ontologische Differenz von Denken und Sein


Dieser Hiatus stellt die Frage nach der ontologischen Differenz (Heidegger). Es ist keine Frage zwischen Konkretisten und Abstraktionisten, es ist die Frage: Kann der Künstler auf die bewusste Reflexion über Kunst verzichten, oder nicht? Hatte Platon noch die Einheit des Schönen, Guten und Wahren postuliert und damit die Kunst wie alles andere in einem größeren Zusammenhang gesehen, so da waren immer auch Ethik und Politik, hat Aristoteles diese Einheit nachhaltig aufgebrochen und der wissenschaftlichen Arbeitsteilung, Spezialisierung unterworfen. Ganz wollte oder konnte er aber auch nicht darauf verzichten, Kunst wenigstens mit dem Guten zu verbinden: „Schön ist alles, was, während es um seiner selbst willen erstrebenswert ist, zugleich lobenswert ist“, weiter: „was gut, und weil gut, auch angenehm ist.“v. Man erkennt bei Aristoteles sehr genau, dass es gerade das Feld der Kunst ist, auf dem es ihm äußerst schwergefallen ist, sich von Platon und seinen Vorgängern klar abzusetzen. Im Gegenteil, folgt er doch allzu gern Platon bis zurück zu den Pythagoreern, wenn er schreibt: „Die Hauptarten des Schönen sind Ordnung, Symmetrie und Bestimmtheit, und dies eben nachzuweisen, ist der Hauptzweck der Mathematik.“vi Und an anderer Stelle, wenn es wiederum um die Dichtkunst geht: „Leicht faßlich, weil sie leicht im Gedächtnis zu behalten ist, und zwar ist sie dies, weil die periodische Sprechweise ein bestimmtes Zeitmaß hat, was die allerbeste Gedächtnishilfe ist.“vii

Wir werden an anderer Stelle auf die folgenschwere Linearisierung der Zeit (Zählbarkeit) im Begriff der Kinesis zurückkommen, halten aber hier schon einmal fest, dass seine Gedanken und Ausführungen zur Kunst auf die Konsistenz und logische Integrität des Denkens zielend offensichtlich allergrößte Schwierigkeiten bereitet. Und welches Ideal am Werke ist, erkennt man unschwer, wenn er schreibt:
„Großes Format gehört zur Hochsinnigkeit, genau so wie Schönheit nur an einem hochgewachsenen Körper sichtbar wird. Kleine Menschen können nett und in den Proportionen gleichmäßig sein, aber schön sind sie nicht.“viii


Die Kunst betritt das Feld der Geschichte


In der Kunstgeschichte wurde dieses Plädoyer für die Ideale des Großen und gleichzeitig Majestätischen später abgelöst durch Würde und Anmut, später selbst noch durch das Heroische im romantischen Menschen. Dass diese Ideale ihre transzendenten Berechtigungen haben, will Aristoteles damit begründen, dass sie zum Kanon der griechischen Künste in der Choreia gehören. Hier steht, wir sahen das bereits, die Dichtung der Wissenschaft am nächsten und somit auch in der Hierarchie der Künste ganz oben. Was die Dichtkunst z. B. von der Geschichte als Wissenschaft unterscheidet ist interessant:

Es ist nicht die Aufgabe des Dichters zu berichten, was geschehen ist, sondern vielmehr was geschehen könnte und was möglich wäre nach Angemessenheit und Notwendigkeit. Denn der Historiker (bzw. Empiriker) und der Dichter unterscheiden sich nicht dadurch, daß der eine Verse schreibt und der andere nicht, sie unterscheiden sich vielmehr darin, daß der eine erzählt, was geschehen ist, der andere, was geschehen könnte. Darum ist die Dichtung auch philosophischer und bedeutender als die Geschichtsschreibung. Denn die Dichtung redet eher vom Allgemeinen, die Geschichtsschreibung vom Beson­deren.“ix

Schwierig, diese Stelle mit seinen Darlegungen zur Kunst in Einklang zu bringen, soll doch die Kunst auf das Besondere gehen. Wir halten fest, Aristoteles sieht hier in der Dichtkunst durchaus das „Allgemeine im Besonderen“, wie es später Hegel genauer bestimmen wird. Aber was ist denn dieses Allgemeine in Wirklichkeit, in der antiken Wirklichkeit der Griechen, und wie steht dieses Allgemeine in Beziehung zu einem Besonderen; hier zum Menschen bzw. zum Künstler? Das antike Allgemeine ist eine kosmische Ordnung. Der Kosmos war die „ungeschaffene, immer seiende und für alle Wesen selbe Weltordnung“, wie Heraklit schreibt, die als sichtbare Ordnung ihre natürliche Schönheit an sich hat. Den Griechen galt der Kreis als das Sinnbild für die ungeschaffene, immer seiende Weltordnung, deren zyklisches Geschehen ebenso das endliche Leben des Menschen wie seine endliche Geschichte umfasste. Mit dem aristotelischen Denken kommt nun Geschichte in die sichtbare „Weltordnung“ und mit Geschichte hört auch die „natürliche Schönheit“ auf. Mit der Geschichte kommt aber auch gleichzeitig eine Überfrachtung des Denkens in die Welt, denn wenn alles nun auch aus seiner Geschichte her betrachtet werden soll, regressiv und progressiv zumal, dann lasten Tonnen an Gewicht auf dem Bewusstsein des Menschen.

„‚Weltgeschichte‘ ist wörtlich genommen ein Missbegriff, denn weltumspannend oder universal ist nur die eine von Natur aus bestehende Welt, innerhalb derer unsere geschichtliche Menschenwelt etwas Vorübergehendes ist. Die Weltgeschichte steht und fällt mit dem Menschen – die Welt selbst kann auch ohne uns sein; sie ist übermenschlich und absolut selbständig. Die klassischen Historiker berichten Geschichten, sie erdenken jedoch keine sinnvoll fortschreitende Weltgeschichte. Der klassische Historiker fragte: Wie kam es dazu? Der moderne: Wie wird es weitergehen?“x

Mit der Geschichtsphilosophie kommt ebenso etwas ins Denken, was in der Folge der antiken Kosmologie angelegt worden ist: eine, wie Löwith es nennt, „Maßlosigkeit“, weil im Geschichtsdenken „ein Geschehen, das selbst ohne Maß ist, zur absoluten Orientierungsgröße für das Denken und Handeln des Menschen erhoben wurde.“xi Die Folgen scheinen paradox. Je mehr an Geschichte wir denken, je größer scheint der „Weltverlust“, den Friedrich Nietzsche als erster Denker Ende des 19. Jhd. im abendländisch-christlichen Denken als eine Geschichte des Weltverlustes dargelegt hat. Mit seiner Denkfigur der „Ewigen Wiederkehr des Gleichen“ hatte er der heils- und zukunftsorientierten Auffassung von Geschichte mit ihrer linearen Ausrichtung die Vorstellung einer immerwährenden, kreisförmigen Bewegung alles Seienden entgegengesetzt. In seiner Schrift „Also sprach Zarathustra“ schreibt er: „Alles geht, Alles kommt wieder zurück; ewig rollt das Rad des Seins. Alles stirbt, Alles blüht wieder auf; ewig läuft das Jahr des Seins. Alles bricht, Alles wird neu gefügt; ewig baut sich das gleiche Haus des Seins.“xii

Aristoteles kam gar nicht umhin, die Ideale der Kunst in einer transzendenten Welt zu verorten, denn wären sie menschlicher Natur, unterlägen sie der Geschichte und der bewusste Rekurs darauf, wie ihn etwa die Kunstgeschichte versucht, führte zu einer immensen Überfrachtung und zu Weltverlust.
„Die Philosophie der Neuzeit ist zwar nicht mehr eine Magd der Theologie, aber sie ist umso mehr zum Diener der geschichtlichen Welt geworden. Wenn uns die Zeitgeschichte aber irgendetwas lehrt, dann offenbar dies, dass sie nichts ist, woran man sich halten und woran man sein Leben orientieren könnte. Sich inmitten der Geschichte an ihr orientieren wollen, das wäre so, wie wenn man sich bei einem Schiffbruch an den Wogen festhalten wollte.“xiii Für die antiken griechischen Denker war der Mensch Teil von Natur und von der Welt, die ebenso Teil des Kosmos war. Diese Welt, die Teil eines ewigen, zyklischen Kosmos, ohne Anfang, ohne Grund und ohne ein Ziel war, hat der Mensch verloren. In den modernen Auffassungen von Kunst begegnen wir ganzen oder Teilen von Befreiungs- und Erlösungstheologien, die gegen den Nihilismus der Moderne einen Weg hin zu einer Wiedergewinnung von Welt sehen wollen. Die Neuplatoniker (Neuplatonismus, 3.Jhd. n.Chr. in Rom entstanden) sahen in der Kunst den Abglanz des Göttlichen und verliehen ihr damit und in ihren Rekursen auf die christlich-jüdische Theologie den numinosen Charakter, den sie seitdem in weiten Teilen der Kunstphilosophie und in der Kunstgeschichte im christlichen Abendland bis heute behalten hat.

Das Göttliche, das Natürliche, das Kosmische etc. als Metapher einer Erlösung bzw. einer Wiedergewinnung der Welt von authentischen Lebensweisen steht nach wie vor neben einer epikureischen Auffassung von Kunst (Epikur, 340 – 271 v. Chr.), die, wie wir sahen, einen an Demokrit orientierten Materialismus und einer hedonistischen Ethik folgen, wonach alles in der Welt aus Zufall (ursprünglich Ananké, Zwangsläufigkeit, Notwendigkeit) geschieht, selbst, wenn sich auch Regelmäßigkeiten beobachten lassen.


Anmerkungen:

i Aristoteles, Rhetorik 1371 b 4

ii Aristoteles, Nikom. Ethik 1140 a 9

iii Aristoteles, Politik 1339 b 4

iv Aristoteles, Politik 1282 a 3

v Aristoteles, Rhetorik 1366 a 33

vi Aristoteles, Metaphysik 1078 a 38

vii Aristoteles, Rhetorik 1409 a 35

viii Aristoteles, Nikomachische Ethik 1123 b 6

ix Aristoteles, Poetik 1451 a 36

x Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen: die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie

xi Astrid Nettling, Karl Löwith, Philosophie ohne Verheißung, Deutschlandfunk, 2014

xii vgl. Astrid Nettling, Karl Löwith, Philosophie ohne Verheißung, Deutschlandfunk, 2014

xiii Karl Löwith, Weltgeschichte und Heilsgeschehen: die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie



Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de



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