Kunst - ein Ausdruck von Pluralität?
• Kommentar: Ästhetische Theorie & Contemporary Art (Last Update: 01.09.2014)
Bis wohin muss ein Erweiterter Kunstbegriff noch dehnbar werden, soll er
die Heterogenität des Kunstschaffens der Gegenwart begreifen helfen?
Würde er nicht zu einer Art Gummiband, dass gänzlich ausleiert und zwangsläufig irgendwann reißt?
Nicht wenige sehen die Möglichkeit ästhetischer Theorie überhaupt als gefährdet an.
Warum eigentlich? Die emprischen Wissenschaften haben schließlich auch seit dem 16ten Jahrhundert nicht vor
der jedes System sprengenden Vielfalt ihrer Gegenstände kapituliert. Offenbar holt Kunst
das heute nach. Warum sollte also Kunsttheorie gerade jetzt kapitulieren?
Eine Möglichkeit der Weiterentwicklung des Verständnisses künstlerischer
Leistungen scheint es zu sein, einen stärker pluralen Kunstbegriff zu erproben.
Ist das bereits passiert? Was wäre davon zu erwarten? Wogegen wäre der abzugrenzen?
Wolfgang Sohst stellt einen pluralen Kunstbegriff vor. Michael Seibel denkt darüber nach.
Wolfgang Sohst
Der plurale Kunstbegriff
1.
Einleitung
Alle
mir bekannten neueren Theorien der Kunst, z.B. die Kunstbegriffe
Hegels (1),
Heideggers (2),
Benjamins (3) oder
Adornos (4),
gehen im Kern vom einzelnen Kunstwerk als dem elementaren Gegenstand
ihrer Theorie aus.(5) Dies gilt unbeschadet der Tatsache, dass, ausgehend vom Begriff des
Ästhetischen bei Kant in seiner Kritik
der Urteilskraft,
der gemeinsame Ausgangspunkt der hier genannten Autoren zunächst
nicht das einzelne Kunstwerk, sondern vielmehr die ästhetische
Beziehung des Einzelnen zum Kunstwerk ist. Diese Beziehung ist im
Kern jedoch immer als eine 1:1‐Beziehung
gedacht, d.h. als eine Beziehung zwischen einer
wahrnehmenden
Person und einem
bestimmten
Kunstwerk. Ich werde im diesem Text zu zeigen versuchen, wieso beide
dieser Verankerungen des Kunstbegriffs im einzelnen Menschen
einerseits und im einzelnen Kunstwerk andererseits den sozialen
Verhältnissen in den heutigen offenen, d.h. ideologisch
heterogenen Massengesellschaften nicht mehr gerecht werden. (6)
Der heutige Kunstbegriff
bedarf deshalb eines grundsätzlich Perspektivwechsels im
Verhältnis zu den eingangs genannten Ansätzen. (7)
2.
Der traditionelle Kunstbegriff als homogene Beziehung zwischen
Produzent bzw. Rezipient und Werk
Zunächst
mag das Herunterbrechen der künstlerisch‐ästhetischen
Situation auf eine Beziehung zwischen jeweils einzelnen Menschen und
Kunstwerk aus der Sicht des jeweiligen Künstlers oder des
Rezipienten einzelner Kunstwerke durchaus gerechtfertigt und auch
praktisch sinnvoll sein. Es zeigen sich an einer solchen Prämisse
jedoch Beschränkungen, sobald man die Probe aufs Exempel
unternimmt und sich als einer unter Vielen in die unüberschaubare
Flut des heutigen künstlerischen Angebots begibt, das
fortlaufend und, von vornherein von einer Mannigfaltigkeit der
Auffassungen und Produktionsweisen ausgehend, für eine damit
korrespondierende Mannigfaltigkeit der Affektion und des Urteils
geschaffen wird. In Anbetracht dieser allseitigen Mannigfaltigkeiten
ist zwar die 1:1‐Beziehung
zwischen einem Rezipienten und einem Kunstwerk keineswegs obsolet,
denn schon allein der Kunstmarkt bedarf ihrer notwendig, und auch die
psychologisch bedingte Erwartungshaltung und Affektstruktur des
einzelnen Kunstrezipienten kommt einer solchen reduzierten Beziehung
stark entgegen. Allein, das eindeutige Urteil über einzelne
Kunstwerke verliert zunehmend an Allgemeinverbindlichkeit.
Stattdessen breitet sich bei unbefangener Überschau über
die ganze Breite des künstlerisch Möglichen das nagende
Gefühl aus, in der Kunst sei nicht nur alles möglich,
sondern infolgedessen auch ein jeder Streit um den semantischen
Gehalt, ganz zu schweigen von der Qualität irgendeines
Kunstwerks, vom billigen Groschenroman bis zum pompösen
Opernzyklus, letztlich unentscheidbar und damit hinfällig. Die
daraus resultierende Unsicherheit ist keineswegs durch den von Kant
stark gemachten Begriff des subjektiven Geschmacksurteils, das im
Kern auf interesselosem Wohlgefallen aufbaut8,
zu beheben. Denn unser Geschmacksurteil ist offenbar keineswegs ein
Ding beliebigen Wohlgefallens und damit nur unser je eigenes
Privatvergnügen. Es ist vielmehr das Produkt habitueller Prägung
sowie aktueller Moden und Affektströmungen, die alles andere als
etwas Persönliches und Privates sind. Dies wurde in der
Soziologie immer wieder empirisch nachgewiesen, am nachhaltigsten
vielleicht von Pierre Bourdieu9,
und auch durch die allgemeine Soziologie von Autoren wie z.B. Erving
Goffman immer wieder analysiert und bestätigt. Im Hinblick auf
die Kunst (aber auch darüber hinaus) zeichnen sich die heute auf
der Welt bestehenden industriell‐medialen
Großgesellschaften, im Vergleich zu ihren Zuständen ein
Jahrhundert zuvor, durch eine starke Pluralisierung des
künstlerischen Ausdrucks und der künstlerischen
Formensprachen in gleichzeitig zunehmend unschärferen
Gattungsbegriffen aus. War das Vordringen der Fotografie in die
Bildenden Künste zum Ende des 19. Jahrhunderts noch eine
Provokation für die bis dahin traditionell aufgefasste und
betriebene Malerei, und die zumindest eine der Wurzeln z.B. für
die Entstehung des Impressionismus war, war der Kinofilm für die
Massen noch ein Kristallisationspunkt heftiger philosophischer
Debatte in den 1930er Jahren, so ist heute bereits die Frage, ob
diese oder jene Performance, sog. land
art
oder
politisch‐künstlerische
Aktion à la Pussy
Riot schon oder
noch Kunst sei oder nicht, gänzlich uninteressant und
gesellschaftlich tatsächlich, d.h. sozial objektiv obsolet. Nun
stellt sich allerdings auch heute noch Kunst ganz überwiegend
und in allen ihren Formen als Erscheinung einzelner Kunstwerke dar.
Kunst muss
zu ihrer Verbreitung weitgehend ein handelbares Wirtschaftsgut und deshalb in
Einzelstücken oder ‐kopien
verkäuflich sein, um überhaupt für offene Märkte
produziert werden zu können, selbst wenn sie zunehmend
kollektiv (10) oder
gleich gänzlich industriellanonym (11)
produziert wird. Wohl aber
hat sich die Möglichkeit verflüchtigt, noch allgemein
verbindliche Kriterien angeben zu können, nach denen sich
einzelne Stücke gattungsmäßig zuordnen oder gar
beurteilen ließen, ganz zu schweigen von allgemeinen, d.h.
gattungsübergreifenden Urteilsmerkmalen ‚guter’
Kunst. Der allgemeine Kriterienverlust ist dabei ein ganz
grundsätzlicher: Er ist die Folge der beidseitigen, heterogenen
Mannigfaltigkeit, d.h. sowohl auf Seiten der Produzenten, als auch
auf jener der Rezipienten, der Auffassung und Repräsentation des
kollektiv organisierten Individuums in seiner jeweiligen Umwelt.
Dieser Verlust auch nur einigermaßen, d.h. zumindest
mehrheitlich empfundener Homogenität künstlerischer Affekt‐
und
Urteilsbeziehungen im Verhältnis vom Produzent, als auch vom
Rezipient zum jeweiligen Werkresultat ist es, der zu dem führt,
was ich den pluralen
Kunstbegriff nenne.
Eine solche Pluralisierung des Kunstbegriffs bedeutet jedoch
keineswegs zwangsläufig eine Auflösungserscheinung in
dessen Beliebigkeit.(12) Vielmehr lassen sich auch
unter diesen recht radikal veränderten Bedingungen dennoch
praktische Bedingungen formulieren, die ein Urteil über
Kunstwerke zulassen – wenn auch nicht mehr über einzelne
Werke, sondern über Aggregate von Kunstwerken, die in
irgendeinem, und sei es nur äußerlichen Zusammenhang
miteinander stehen. Jeder Kunstbegriff, also auch der plurale in dem
hier explizierten Sinne, ist epochal gebunden. Die epochale Bindung
äußert sich, grob gesagt, als die Summe aller zu einer
Zeit weitgehend als gültig anerkannten Urteilskriterien über
Kunstwerke, die fortwährend gesellschaftlich und
individuell‐subjektiv
an die Kunst herangetragen und fortentwickelte werden. Sie müssen
von Künstlern, die in ihrer Epoche erfolgreich sein wollen, wie
auch immer erfüllt werden, um zumindest von einer ausreichenden
Anzahl von Menschen wohlwollend rezipiert werden zu können. Der
jeweils epochal gebundene Kunstbegriff hängt somit von
Möglichkeitsbedingungen ab, die ganz allgemein aus der
gesellschaftlichen Situation einer Zeit heraus erwachsen und von
allen Beteiligten als solche auch erkannt oder zumindest intuitiv
erfasst werden können. Diese heute vermutlich als common
sense verbreitete
Auffassung erwähne ich nur deshalb, weil sie auch für den
pluralen Kunstbegriff gilt. Damit will ich keineswegs sagen, dass zu
jeder Zeit in ein und demselben Kulturraum nur jeweils ein einziger
anerkannter solcher Begriff bestehen kann. Bereits das
19. Jahrhundert gibt z.B. in der revolutionären Kunst eines
Richard Wagner oder beim Aufstieg des Impressionismus beredtes
Zeugnis davon ab, dass unterschiedliche Kunstbegriffe auch einander
zeitlich und räumlich überlagern können. In der Regel
standen sie sich in solchen Fällen allerdings konkurrierend
gegenüber, wobei die sog. ‚Neutöner’ (Wagner)
oder wie immer man sie nannte (13)
mit durchaus
revolutionärem Elan gegen die ‚Alten’ antraten.
Nicht so mehr heute. Unterschiedlichstes steht und tönt in
friedlicher Eintracht nebeneinander, dabei jedes wie sein eigener,
sich selbst genügsamer Kosmos ohne Bezugnahme selbst auf seine
unmittelbaren geistigen Nachbarn. Dies ist ein wichtiger Befund, und
ich behaupte, dass er sich nicht anders erklären lässt als
durch eine ebenso verfasste Gesellschaft – im Hinblick auf ihre
Friedlichkeit allerdings nur, sofern man sich auf die
Binnenverhältnisse solcher Gesellschaften beschränkt, die
sie sich nicht gerade in bürgerkriegsähnlichen Spannungen
befinden. Diese Gesellschaften stellen wiederum die große
Mehrheit innerhalb ihrer eigenen Gattung, können deshalb als ihr
Regelzustand betrachtet werden. Aus dem vorstehend Gesagten folgt,
dass man die besonderen konzeptionellen,
d. h. nicht nur z.B. die wirtschaftlichen Möglichkeitsbedingungen
von Kunst unter den heutigen Umständen in den gegenwärtigen,
pluralistisch orientierten Massengesellschaften formulieren muss, um
ihren spezifischen künstlerischen Urteilsrahmen im Sinne ihrer
künstlerischen Möglichkeitsbedingung daraus ableiten zu
können. Ich stelle dabei bewusst nicht allein auf die
wirtschaftlichen Möglichkeitsbedingungen von Kunst in solchen
Gesellschaften ab, weil dies nach meiner Auffassung zu nichts anderem
führen kann als zu der am Ende verächtlichen Vermutung,
dass sich die Erfolgschancen von Kunst heute ohnehin nur aus dem
Marketing und schlauen Vertriebsstrategien heraus abschätzen
lassen. Es mag Künstler geben – ich selbst habe einige
dieses Typs kennengelernt – die damit durchaus Erfolg haben.
Für die Mehrheit der professionell arbeitenden Künstler
kann dies allerdings nicht gelten, weil dies ihre Kunst auf die Dauer
gegenüber ihrem unter anderem auch zahlenden Publikum praktisch
vollständig entwerten würde. (14)
Erfolgreiche Kunst muss
deshalb auf konzeptionellen Fundamenten aufbauen, die ihrem
wirtschaftlichen Erfolg vorausgehen; der wirtschaftliche Erfolg ist
ein systemisch sekundärer, auch wenn er im Sinne einer positiven
Rückkoppelung die präökonomisch entstehenden
künstlerischen Keime fraglos stark beeinflussen kann. Der
soziale und affektive Ursprung von Kunst liegt dennoch in keinem rein
wirtschaftlichen Kalkül. Die epochal determinierten
Möglichkeitsbedingungen von Kunst sind primär, d.h. an
ihren Keimorten, ideeller Natur. Wollen wir (15)
also den epochalen
Kunstbegriff unserer eigenen Zeit begreifen, müssen wir uns an
den sozialen Wurzeln der Kunstentstehung nach dem kleinsten
gemeinsamen Nenner des Selbstverständnisses jener heutigen
Künstlerschaft umsehen, die sich selbst nicht nur als
Gelegenheitskünstler sieht. (16)
Ein solcher gemeinsamer
Nenner wird notwendig extrem mager ausfallen. Im Sinne der Dialektik
von Produzent und Rezipient müssen KünstlerInnen, um
gesellschaftlich über die eigenen künstlerischen Kreise
hinaus akzeptabel zu sein,
auch wesentliche Teile des allgemeinen Selbstverständnisses in
den sie umgebenden plural orientierten Gesellschaften positiv
aufgreifen. Was hier zunächst wie eine intellektuelle
Trockenübung ausschaut, ist durchaus sinnvoll, wenn es um das
das sehr distinkte künstlerische Selbstverständnis in einer
im historischen Vergleich hochgradig und dennoch stabil heterogenen
Gesellschaft geht.
3.
Verschiedenheit als Kern der Gemeinsamkeit
Dieser
kleinste gemeinsame Nenner einer entsprechend orientierten
Künstlerschaft kann zwangsläufig nur ein Negatives sein,
nämlich die gemeinsame Ablehnung einer inhaltlich einheitlichen
und widerspruchfreien Auffassung von Kunst. Positiv gesagt ist dies
das Bekenntnis zur Pluralität selbst, denn ohne dieses
Bekenntnis wäre die Künstlerin bzw. der Künstler
verloren in der überwältigenden Mehrheit Andersdenkender,
die bestenfalls eine chaotisch konkurrierende Mannigfaltigkeit, aber
keine gemeinsame Atmosphäre mehr schaffen können. Jedes
darüber hinaus gehende positive Kriterium eines gemeinsamen
Kunstbegriffs wäre dagegen nicht nur an sich selbst bereits
beliebig, sondern schon deshalb aus der immanenten Logik pluraler
Kunstpraxis heraus nicht allgemein, weil stärkere Vorgaben genau
dieses erste Prinzip der Heterogenität verletzen würden.
Das zentrale Kennzeichen des pluralen Kunstbegriffs ist also ein
eminent negatives: die Abwesenheit material verbindlicher gemeinsamer
Auffassungen von Kunst, positiv gewendet zur tolerierten
Gemeinsamkeit der Verschiedenen. Ein solches Fanal der Pluralisierung
ist allerdings notwendig zugleich auch eines der Partikularisierung:
Jeder für sich und alle für keinen. Nur unter dieser
Prämisse ist das relativ konkurrenzfreie Nebeneinander
unterschiedlichster Stile, Materialien, Inhalte und Formensprachen
denkbar. Dies kommt auch einem ganz ähnlich gestimmten Publikum
entgegen: Die Konsumenten unter den Rezipienten haben ihre eigenen
Verwendungsweisen für Kunst und folglich einen je eigenen
Geschmack. Sie beanspruchen in der Regel kaum, dass ihre Nachbarn
diesen mit ihnen teilen. Man hat zu viele Nachbarn, um eine solche
Forderung auch nur ansatzweise durchsetzen zu können. Kopfhörer
auf und durch. Das dichte Beieinander heterogenster Kunstwerke, z.B.
in Sammelausstellungen oder musikalischen Festivals, kann zunächst
seltsam nebulöse Empfindungen der Indifferenz auslösen: Es
will sich dem Konsumenten einfach kein gemeinsamer Eindruck, keine
gemeinsame Semantik der Exponate bzw. Darstellungen mehr einstellen,
und man verlässt solche Veranstaltungen womöglich mit dem
unbefriedigenden Gefühl eines frustrierten Käufers, der
trotz des riesigen Angebots in den Regalen einfach nichts findet, was
ihn affiziert. Dies passiert zunächst allein aufgrund der
solitären, deshalb unentscheidbaren Geltungsansprüche eines
jeden einzelnen Werks, ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten,
diese Geltungsansprüche überhaupt bestimmen zu können.
Auch das bekannte Privatsprachenargument Wittgensteins, demzufolge
man, allgemein gesprochen, als Sprache nur solche symbolischen
Äußerungen bezeichnen kann, deren Code in Gestalt ihrer
Grammatik und Lexik eine zumindest begrenzte Öffentlichkeit
hat (17), nimmt in solchen
Augenblicken manchmal eine verwirrend spürbare Gestalt an.
Plural orientierte Kunst ist als partikulare Kunst in ihrer
Formensprache häufig ganz bewusst privat,
und das heißt eben: nicht ohne weiteres verständlich. Als
Konsumenten reagieren wir auf sie manchmal mit schlichter, intuitiver
Begeisterung, die ebenfalls kaum begründbar, weil genauso privat
ist. Wir bilden uns dann eine Art Korrespondenzverhältnis
zwischen dem Kunstwerk, das unsere Affekte provoziert, und eben
diesen Affekten ein. Mangels allgemein verbindlicher Form‐
und Urteilskriterien muss die Wahrheit einer solchen
Korrespondenz aber ein unergründliches Geheimnis bleiben, denn
es gibt, sofern man nicht zufällig den Künstler persönlich
gut zu kennen meint, überhaupt kein empirisches Kriterium,
anhand dessen sich eine entsprechende Beziehung nachweisen ließe.
Das gesamte Urteilsvermögen gegenüber der plural
orientierten Kunst scheint damit in einem Morast der Beliebigkeit zu
versinken. Muss es das wirklich? Ich denke nicht. Tatsächlich
wird es uns in einer solchen Situation aber nur helfen, sich auf den
Wert der Pluralität selbst zu besinnen, ähnlich wie wir es
auch schätzen, z.B. auf einer Party ganz unterschiedliche
Menschen zu treffen und nicht nur eine mehr oder weniger einheitliche
Versammlung Gleichgesinnter, seien es Immobilienmakler, vitale
Jungrentner oder lauter Opernsänger. Das heißt, wir müssen
schon Gefallen an der Vielheit selbst finden, um die Pluralität
schätzen zu können. Reduziert man die Pluralität, sei
es von Meinungen oder von Kunstbegriffen, dagegen auf das Unvermögen,
die anderen Zeitgenossen von den eigenen Ansichten überzeugen zu
können und folgert daraus die Notwendigkeit der Emigration in
die weitgehende Privatheit, verfehlt man den eminent politischen
Charakter des gesellschaftlichen Selbstverständnisses
in einer Epoche der Pluralität.
4.
Pluralität als politische Forderung
Wenn
Heterogenität in der Kunst nur das Spiegelbild einer ebensolchen
Lebenswirklichkeit des Individuums in der massenmedial‐industriellen
Gesellschaft ist, so kommt einer solchen Kunst eine zweifache
Funktion zu:
1.
Der plural auftretende Kunstsektor wirkt als Projektionsfläche
einer Versöhnung der unterschiedlich Vielen in schöpferischer
Gemeinsamkeit nicht etwas trotz, sondern gerade wegen ihrer
Verschiedenheit. Sie ist damit ein Gegenbild zur drohenden
Atomisierung der Individuen als Folge sozialer Entfremdung und
Desintegration, wie sie in sonstigen Erwerbszusammenhängen
häufig beklagt wird.
2.
Plural auftretende Kunst ist zwar eher unterschwellig, aber dennoch
häufig recht deutlich spürbarer Protest zugunsten
individueller Lebensgestaltung und gegen die Übermacht großer
Organisationen, seien dies Staaten, Großunternehmen oder
ideologische, z.B. religiöse Parteiungen, insofern sich die
Kunst der Vielen einer Unterwerfung des Individuums unter solche
Organisationen entzieht und diese sogar häufig explizit als
menschenfeindlich denunziert. (18)
Insbesondere
der zweite der vorgenannten Punkt verleiht der plural positionierten
Kunst eine nicht geringe politische Bedeutung, uns zwar gerade in dem
dichten Rhizom noch nicht öffentlich belobigter Kunstproduktion.
Dies geht auf eine allgemeine gesellschaftliche Entwicklung unserer
Epoche zurück. Der strukturelle Gegensatz zwischen übermächtig
wuchernden Organisationen und dem ihnen gegenüber praktisch
hilflosen Individuum wird heute stärker empfunden als je zuvor
in der Geschichte. Klagten zwar auch zu allen früheren Zeiten
die Menschen immer wieder über willkürliche Herrscher und
unerträgliche Ungerechtigkeit, so waren solche Vorwürfe
doch immer personalisiert, d.h. sie bezogen sich auf die konkreten
Machteliten und ihre Exzesse. Den historischen Spannungssituationen
lag aber immer noch eine relative Nähe zwischen Beherrschten und
Herrschern zugrunde, auch waren die beteiligten Gruppen noch bis ins
19. Jahrhundert hinein klein im Vergleich zu den heutigen
Massengesellschaften. Dem gegenüber haben sich konkrete
Feindbilder heute in ihre globale Allgegenwart verflüchtigt; an
ihre Stelle ist ein tief sitzender Widerwille gegen jegliche
Instrumentalisierung und Fremdbestimmung durch große
Organisationen, gleich welcher Art, getreten. (19)
Ernst-Wolfgang
Böckenförde hat in einem scharfsinnigen Aufsatz auf den
nicht nur tatsächlichen, sondern sogar für jede vitale
Gesellschaft notwendigen Unterschied zwischen Staat und Gesellschaft
hingewiesen. (20) Die
Gesellschaft ist für ihn mit Ferdinand Tönnies bereits ein
Mittleres zwischen Gemeinschaft und Staat. (21)
Sie ist institutionell
ausgeprägter, d.h. differenzierter und unpersönlicher als
die Gemeinschaft, kommt dafür aber auch mit größeren
Unterschieden der individuellen Orientierung und Lebenssituation
ihrer Mitglieder zurecht, ist also weniger auf deren unmittelbare,
affektive Einstimmung angewiesen. Dem Staat steht die Gesellschaft
als ein in jeder Hinsicht offenes Aggregat einzelner Menschen und
ihrer mehr oder weniger verbindlichen Institutionen gegenüber,
wogegen sich der Staat als Handlungs‐
und damit Machteinheit versteht, die im internationalen Verkehr sogar wie ein
natürliches Subjekt auftritt und behandelt wird. Diese
staatliche Einheit wird von ‚seinen’ Bürgern, die
ihm als Individuen und kleine Gemeinschaften insgesamt als
Gesellschaft gegenüberstehen, durchaus argwöhnisch und
zuweilen regelrecht als Gegner wahrgenommen. Oft genug heucheln
Staaten wirklich nur ihre Dienstbeflissenheit am Bürger und
fordern faktisch doch nur dessen widerspruchslose Unterwerfung. Der
nach wie vor gültige Befund von Böckenförde gilt
heute, d.h. in Zeiten des Aufrückens international agierender
Großorganisationen auf die Machthöhe etablierter Staaten,
sogar noch in weit größerem Umfange, nämlich
hinsichtlich jeder Form des Verhältnisses von gemeinschaftlich
orientierten Individuen zu Großorganisationen.
In einem solchen Spannungsverhältnis z.B. zwischen Staat und
Individuum kommt der plural orientierten Kunst eine ideologische
Schlüsselfunktion zu. Deutete man daraufhin die Privatheit
als das Kernelement einer solchen Kunstauffassung, so wäre
sie geradezu das jämmerliche Ebenbild einer Gesellschaft, die
ihre Eigenständigkeit gegenüber allen Arten riesiger
Großstrukturen, die ständig zur anmaßenden
Vereinnahmung neigen, gänzlich verloren hat, indem sie wie eine
kaputte Autoglasscheibe in tausend einzelne Privatsplitter
zerspringt. Eine solche Interpretation verfehlt jedoch den
politisch‐affektiven
Kern. Kunst ist heute in dem Umfange, wie sie öffentliche
Geltung beansprucht, keineswegs der biedermeierliche Ausdruck eines
allgemeinen Rückzugs in die irrelevante Privatheit, auch wenn
sie uns infolge ihrer Vielfalt manchmal so erscheinen mag. Sie ist
vielmehr ein Ausdruck, oder vielleicht besser: der Versuch eines
Ausdrucks der Selbstbehauptung des Individuums in seiner
Besonderheit. Als solche unterscheidet sie sich deutlich von der
frühromantisch‐irrealen
Einbildung der Einzigartigkeit des Individuums, wie es das
künstlerische Trugbild des 19. Jahrhunderts seinen Zeitgenossen
weiszumachen versuchte. Davon dürften wir Heutige, zumindest
größtenteils, ziemlich weit entfernt sein, denn die
Wirklichkeit verweigert uns beharrlich die Bestätigung eines
solchen Selbstbildes. Wir sind zu viele, zu unterschiedlich, als
Einzelne zu machtlos, um unserer Einzigartigkeit, selbst wenn sie
denn wahr sein sollte, noch größeren Wert beimessen zu
können. Es zählt vielmehr die Geltung unserer Besonderheit
im gesellschaftlichen Zusammenhang, und das heißt: unsere
Geltung gerade als
sozial offene, die Andersheit um uns herum begrüßende
Individuen mitten im
gesellschaftlichen Zusammenhang.
Das gesellschaftliche Schisma als kritisches Potenzial, das sich hinter
einem solchen Kunstbegriff verbirgt, betrifft aber auch die innere
Verfassung des Kunstsektores selbst. Denn viele Kunstwerke und ihre
Produzenten sind heute ebenfalls Teil bedeutender wirtschaftlicher
Interessen und damit entsprechend mächtiger Großstrukturen.
Dies beginnt bereits bei den großen Staatskunstveranstaltungen
wie der Biennale in Venedig oder der documenta
in Kassel, die zwar durchaus auch der Pluralität
verpflichtet sein mögen, aber bei genauerem Hinschauen doch auch
recht deutlich eine Repräsentation der Kunst unserer Zeit
insgesamt zu sein beanspruchen. Sie erheben damit ein indirektes
Deutungmonopol, das seine Kraft nicht zuletzt aus den erheblichen
Subventionen für solche Veranstaltungen und die zentral
gesteuerten Auswahlprozesse mittels bezahlter, institutionell
hochrangiger Kuratoren bezieht. Aber auch die Aussicht auf enorme
Wertsteigerungen der Werke einzelner Künstler und die nie und
nirgends zu tilgende Sucht nach Berühmtheit und Reichtum
produziert einen ständig wachsenden Sektor wirtschaftlicher
Kunstakteure, bis hin zu globalen Kunstfonds, die sammelbare
Kunstwerke und Antiquitäten wie Wertpapiere handeln, und passend
dazu die teils protzige, teils heimliche Akkumulation großer
Kunstvermögen als krisenfeste Wertspeicher wie Gold und
Diamanten. Ein solcher Umgang mit Kunst verträgt sich schlecht
mit dem pluralen Kunstbegriff. Es bleibt deshalb abzuwarten, ob sich
jene Kunstproduktion und ‐rezeption, die ich hier im Sinne einer relativ jungen,
gesellschaftlich‐ideologisch hoch angesehenen Pluralität beschrieben habe, gegen solche
Gegenspieler sogar im eigenen Lager wird behaupten können.
5.
Veränderte Urteilskriterien: Der Abschied von der
Verabsolutierung
Wie aber, abgesehen von der politischen Rechtfertigung der
Verschiedenheit, kann man im Sinne allgemeinerer Urteilskriterien an
eine Kunst herangehen, die sich einer Verallgemeinerung ihrer
Bedeutung, ganz zu schweigen von ihrer Bewertung, gerade entzieht?
Oder fordert der hier explizierte Kunstbegriff am Ende den gänzlichen
Verzicht auf solche Verallgemeinerungen? Kunst wird von Produzenten
für Rezipienten gemacht. In diesem ‚für’ liegt
ein Angebot an eine normalerweise anonyme Vielzahl möglicher
Rezipienten, die ihrerseits die Möglichkeit der Auswahl unter
vielen Künstlern haben. Dieses Verhältnis erzeugt zwingend
einen gewissen Wettbewerb der Produzenten um die Aufmerksamkeit und
letztlich Gunst des Publikums. Sofern das Publikum sich nicht von
vornherein jeglicher Rezeption von Kunst verweigert, ist es dennoch,
z.B. aus Zeitgründen, aber auch aus Gründen der inneren
Sinnhaftigkeit einer jeden Beschäftigung mit Kunst praktisch
gezwungen, eine Auswahl zu treffen und nicht das gesamte
künstlerische Angebot mit genau der gleichen Aufmerksamkeit zu
bedenken. Natürlich könnte das Publikum – rein
theoretisch – mit konsequenter Unvoreingenommenheit einfach
irgendwelche Kunstwerke aus dem riesigen Angebot zur Kenntnis nehmen
und es dabei belassen, um keinen der Künstler in seiner
Besonderheit zu benachteiligen. Aber warum sollte es das tun? Warum
sollte es sein eigenes Interesse vollkommen verleugnen, nur um der
Künstlerschaft möglichst unparteiischen Respekt zu zollen?
Dies wirft die Frage nach dem Interesse
der Rezipienten von Kunst auf, denn nur aus diesen
Interessen lässt sich am Ende ein nicht willkürliches
Urteilskriterium ableiten. Zu diesen Interessen zählt natürlich
und nicht zuletzt auch das subjektive Wohlgefallen. Doch taugt ein
subjektives Wohlgefallen allein nicht, um mögliche
Geltungsansprüche des Kunstwerks an sich selbst, die man als
Rezipient daran bemerkt zu haben scheint, zu begründen. Neben
den vermutlich auch bei den erfahrensten Kunstkennern immer
mitschwingende subjektiven Affekten bei der Rezeption von Kunst
bedarf es also sog. objektiver oder allgemeiner Kriterien, um der
Rezeption von Kunst längerfristig einen Sinn zu verleihen. Nun
verbietet es allerdings die obige Auffassung heutiger Kunst als
Ausdruck gesellschaftlicher Pluralität, bei diesem Urteil
irgendwelche Maßstäbe anzusetzen, die dem jeweiligen
Künstler und seinem Werk womöglich gänzlich fremd
sind. Dies würde ihn tatsächlich in seiner Besonderheit
verletzen. Dennoch wollen wir über Kunst reden können. Eine
solche Rede ist allerdings in dem Umfange immer auch eine
objektivierend‐urteilende,
wie sie Tatsachenbehauptungen über das jeweilige Kunstwerk
enthält. Mit ‚Urteil’ meine ich hier allerdings, im
Sinne der kantischen Einteilung, einschränkend nicht das
apodiktisch‐
verabsolutierende, sondern bestenfalls das assertorische bzw.
im hier vorgestellten Idealfall sogar nur das problematische Urteil.
Mit einer solchen Einstellung kann ich als ästhetisch‐plural
eingestellter Rezipient durchaus, d.h. ohne Verletzung der
Besonderheit des jeweiligen Kunstproduzenten, an ihn die Frage
richten, in welchem Umfange er sich des Spannungsverhältnisses
seiner Besonderheit zur Gesamtheit der Verschiedenen, unter denen er
vermutlich lebt, gerade in seiner Kunst bewusst ist. Nun ist die
blanke Verschiedenheit des Besonderen an sich selbst neben anderem
Besonderen noch keine Qualität. Wohl aber kann ich das Besondere
auf seine Verbindung zu anderem Besonderen einerseits und seine
Integration in eine individualistische Gesellschaft insgesamt hin
betrachten. Mit anderen Worten: Ich kann ein Kunstwerk auch in seiner
unangetasteten Besonderheit daraufhin befragen, ob es Hinweise darauf
enthält, wie es sich zu seiner gesellschaftlichen und speziell
künstlerischen Umwelt verhält. Enthält es
beispielsweise ästhetische Zitate, die nicht seiner eigenen
Wesensart entspringen? Bietet es Anschlüsse jenseits seiner
eigenen, immanenten Formgesetzlichkeit, die auf eine bestimmte, mehr
oder weniger deutlich artikulierte Wahrnehmung der Außenwelt
des Produzenten schließen lassen? Oder umgekehrt: Erschließt
sich dem Rezipienten im jeweiligen Kunstwerk eine Art radikaler
Privatheit, die mehr ist als ein subjektiver Exhibitionismus, die
also gerade durch die Betonung ihrer Privatheit jenes
Spannungsverhältnis verdeutlicht, dass damit zwischen dem
künstlerisch‐subjektiven
Innenraum und seiner gesellschaftlichen Umgebung besteht? Diese
Fragen sind berechtigt, weil sie auf der gesellschaftlichen Ebene das
Interesse des Rezipienten mit dem des Produzenten von Kunst
verbinden, und die je eigene Besonderheit unter den heutigen
kollektiven Lebensumständen gelten zu lassen, ohne in disparate
Einsamkeit einerseits oder nur geträumte Einzigartigkeit
andererseits zu verfallen. Zwar wird auch bei einer solchen Haltung
immer noch das einzelne Kunstwerk befragt, allerdings eben nicht im
Hinblick auf die Erfüllung irgendwelcher absoluter, autonomer
Urteilskriterien, sondern auf seinen Anschluss an die kulturelle
Umgebung, auf seinen Platz und seine Reaktionen auf seine Umwelt. Ihm
verbleibt damit in weit größerem Umfange seine vielfach
zufällige Subjektivität als im traditionellen
Urteilsraster, und zwar eine Subjektivität innerhalb des
gesellschaftlichen Kollektivs, in dem es entstand und in dem es um
Aufmerksamkeit kämpft.
Nun
gibt es allerdings auch Formen von Kunst, z.B. die ready
mades von
Marcel Duchamp oder Werke wie 4’33‘‘
von
John Cage, die gar keine semantische Intention, also keine eigene
Botschaft haben. Sie sind inhaltlich bewusst leer. Stattdessen
konfrontieren sie den Rezipienten einfach mit etwas, das schlicht
durch die Begegnung mit diesem Etwas eine Auseinandersetzung
provozieren soll. Hier entfällt also der Vorwurf der
Privatsprachlichkeit, weil gar kein eigener künstlerischer
Aussagecode verwendet wird. In welchem Sinne kann Kunst auch bei
Enthaltung von jeglichem inhaltlichem positivem Inhalt noch
da-raufhin beurteilt werden, wie es sich zu seiner gesellschaftlichen
Umwelt verhält?
Nun,
solche Kunstwerke provozieren ja gerade dadurch, dass sie eine Art
‚semantische Enthaltsam-keit‘ zur Schau stellen. Genau
diese Enthaltsamkeit ist aber selbst eine gesellschaftliche durchaus
relevan-te Aussage. Träfe dies nicht zu, wären sie in der
Tat vollkommen bedeutungslos. Die eigenen Kommenta-re der beiden
genannten Künstler (Duchamp und Cage) geben allerdings starken
Anlass zur der Vermu-tung, dass sie eine solche
(meta-)gesellschaftliche Aussage durchaus im Sinn hatten. So kann man
die ready
mades von
Marcel Duchamp als Aussage über die Metamorphose von
Alltagsgegenständen zu Kunstgegenständen durch ihre simple
Erhebung auf einen Museumssockel verstehen, und John Cages 4’33‘‘
könnte
man als radikalste Form der Verabsolutierung von Kunst verstehen,
insofern jedes subjektive Moment einer Interpretation der Komposition
von vornherein ausgeschlossen ist. 4’33‘‘
wäre
dann die radikale Verweigerung einer jeden Kontextualisierung des
Kunstwerks und damit auch eine Verweigerung genau jener
Vergleichbarkeit, die hier gerade gefordert wird. Auch eine solche
Haltung ist allerdings, trotz ihrer Negation, eine gesellschaftliche
Aussage, wenn auch eine am Rande des Solipsismus. Denn im Horizont
dieses Kunstwerks gibt es nur noch das absolute Ich des Nicht-Hörers
mit seinen Gedanken und Empfindungen während des Stückes.
Das
hier stark gemachte Urteilskriterium der gesellschaftlichen
Anschlussfähigkeit eines Kunstwerks jenseits allen subjektiven
Gefallens nimmt primär von jeder Verabsolutierung so genannter
‚guter’, ‚gelungener’ etc. Kunst Abstand.(22)
Daraus
folgt aber keineswegs, dass alles schon gut ist, nur weil es Kunst
neben
anderer Kunst ist. Dann wäre das genannte Kriterium überhaupt
kein Urteilskriterium mehr. Hinsichtlich des besagten künstlerischen
Solispsismus würde ein entsprechendes Urteil folglich eher
negativ ausfallen (womit im konkreten Falle allerdings kein
abschließendes Urteil über 4‘33‘‘
von
John Cage gefällt sein soll).
Sicherlich
ist das hier entwickelte Urteilskriteriums in ganz spezifischem Sinne
expertenfeindlich, denn der Kunstkenner neigt, vermutlich wie jeder
Experte zwecks Erhöhung seines sozialen Wertes, zur
Verabsolutierung seiner Ansichten. (23)
Solcherlei
Anmaßungen unterstützt der hier entwickelte Ansatz
definitiv nicht. Andererseits schließt das hier favorisierte
Urteilskriterium von Kunst keineswegs das ergänzende subjektive
Urteil. Ein solches subjektives Urteil sollte allerdings deutlich als
solches geäußert werden, um als sein Träger nicht in
den Verdacht ästhetischer Tyrannei zu geraten. Schon diese
Absonderung des subjektiven Empfindungsanteils von den sonstigen
Urteilskomponenten, die ihrerseits wohl auch eher tastend vorgetragen
werden sollten als mit apodiktischer Gewissheit, dürfte vielen
Zeitgenossen in der Begegnung mit Kunst nicht leicht fallen.
Ich
meine, es ist möglich, auch bei expliziter Anerkennung pluraler,
inhaltlich weit gestreuter Kunstauffassungen ein bestimmtes,
urteilendes Verhältnis zu künstlerisch heterogenen
Ensembles und einzelnen Kunstwerken einzunehmen, ohne die betroffene
Kunst damit absoluten Qualitätskriterien zu unterwerfen. Dies
erreiche ich, indem ich es objektiv auf seine Bezugnahme als
Besonderes unter anderem Besonderen hin untersuche und darüber
hinaus frei bin, in klarer Abgrenzung von diesem zurückhaltenden
objektiven Urteil auch mein subjektives Wohlgefallen, aus welchen
Gründen auch immer, in Anschlag zu bringen. Dieses ist dann
allerdings nicht mehr als eine Tatsachenäußerung über
mein eigenes Wohlgefallen, ohne jeden Allgemeinheitsanspruch.
Nun
gibt es allerdings auch Formen von Kunst, z.B. die ready
mades von
Marcel Duchamp oder Werke wie 4’33‘‘
von
John Cage, die gar keine semantische Intention, also keine eigene
Botschaft haben. Sie sind inhaltlich bewusst leer. Stattdessen
konfrontieren sie den Rezipienten einfach mit etwas, das schlicht
durch die Begegnung mit diesem Etwas eine Auseinandersetzung
provozieren soll. Hier entfällt also der Vorwurf der
Privatsprachlichkeit, weil gar kein eigener künstlerischer
Aussagecode verwendet wird. In welchem Sinne kann Kunst auch bei
Enthaltung von jeglichem inhaltlichem positivem Inhalt noch
da-raufhin beurteilt werden, wie es sich zu seiner gesellschaftlichen
Umwelt verhält?
Nun,
solche Kunstwerke provozieren ja gerade dadurch, dass sie eine Art
‚semantische Enthaltsam-keit‘ zur Schau stellen. Genau
diese Enthaltsamkeit ist aber selbst eine gesellschaftliche durchaus
relevan-te Aussage. Träfe dies nicht zu, wären sie in der
Tat vollkommen bedeutungslos. Die eigenen Kommenta-re der beiden
genannten Künstler (Duchamp und Cage) geben allerdings starken
Anlass zur der Vermu-tung, dass sie eine solche
(meta-)gesellschaftliche Aussage durchaus im Sinn hatten. So kann man
die ready
mades von
Marcel Duchamp als Aussage über die Metamorphose von
Alltagsgegenständen zu Kunstgegenständen durch ihre simple
Erhebung auf einen Museumssockel verstehen, und John Cages 4’33‘‘
könnte
man als radikalste Form der Verabsolutierung von Kunst verstehen,
insofern jedes subjektive Moment einer Interpretation der Komposition
von vornherein ausgeschlossen ist. 4’33‘‘
wäre
dann die radikale Verweigerung einer jeden Kontextualisierung des
Kunstwerks und damit auch eine Verweigerung genau jener
Vergleichbarkeit, die hier gerade gefordert wird. Auch eine solche
Haltung ist allerdings, trotz ihrer Negation, eine gesellschaftliche
Aussage, wenn auch eine am Rande des Solipsismus. Denn im Horizont
dieses Kunstwerks gibt es nur noch das absolute Ich des Nicht-Hörers
mit seinen Gedanken und Empfindungen während des Stückes.
Das
hier stark gemachte Urteilskriterium der gesellschaftlichen
Anschlussfähigkeit eines Kunstwerks jenseits allen subjektiven
Gefallens nimmt primär von jeder Verabsolutierung so genannter
‚guter’, ‚gelungener’ etc. Kunst Abstand.(22)
Daraus
folgt aber keineswegs, dass alles schon gut ist, nur weil es Kunst
neben
anderer Kunst ist. Dann wäre das genannte Kriterium überhaupt
kein Urteilskriterium mehr. Hinsichtlich des besagten künstlerischen
Solispsismus würde ein entsprechendes Urteil folglich eher
negativ ausfallen (womit im konkreten Falle allerdings kein
abschließendes Urteil über 4‘33‘‘
von
John Cage gefällt sein soll).
Sicherlich
ist das hier entwickelte Urteilskriteriums in ganz spezifischem Sinne
expertenfeindlich, denn der Kunstkenner neigt, vermutlich wie jeder
Experte zwecks Erhöhung seines sozialen Wertes, zur
Verabsolutierung seiner Ansichten. (23)
Solcherlei
Anmaßungen unterstützt der hier entwickelte Ansatz
definitiv nicht. Andererseits schließt das hier favorisierte
Urteilskriterium von Kunst keineswegs das ergänzende subjektive
Urteil. Ein solches subjektives Urteil sollte allerdings deutlich als
solches geäußert werden, um als sein Träger nicht in
den Verdacht ästhetischer Tyrannei zu geraten. Schon diese
Absonderung des subjektiven Empfindungsanteils von den sonstigen
Urteilskomponenten, die ihrerseits wohl auch eher tastend vorgetragen
werden sollten als mit apodiktischer Gewissheit, dürfte vielen
Zeitgenossen in der Begegnung mit Kunst nicht leicht fallen.
Ich
meine, es ist möglich, auch bei expliziter Anerkennung pluraler,
inhaltlich weit gestreuter Kunstauffassungen ein bestimmtes,
urteilendes Verhältnis zu künstlerisch heterogenen
Ensembles und einzelnen Kunstwerken einzunehmen, ohne die betroffene
Kunst damit absoluten Qualitätskriterien zu unterwerfen. Dies
erreiche ich, indem ich es objektiv auf seine Bezugnahme als
Besonderes unter anderem Besonderen hin untersuche und darüber
hinaus frei bin, in klarer Abgrenzung von diesem zurückhaltenden
objektiven Urteil auch mein subjektives Wohlgefallen, aus welchen
Gründen auch immer, in Anschlag zu bringen. Dieses ist dann
allerdings nicht mehr als eine Tatsachenäußerung über
mein eigenes Wohlgefallen, ohne jeden Allgemeinheitsanspruch.
Nun
gibt es allerdings auch Formen von Kunst, z.B. die ready
mades von
Marcel Duchamp oder Werke wie 4’33‘‘
von
John Cage, die gar keine semantische Intention, also keine eigene
Botschaft haben. Sie sind inhaltlich bewusst leer. Stattdessen
konfrontieren sie den Rezipienten einfach mit etwas, das schlicht
durch die Begegnung mit diesem Etwas eine Auseinandersetzung
provozieren soll. Hier entfällt also der Vorwurf der
Privatsprachlichkeit, weil gar kein eigener künstlerischer
Aussagecode verwendet wird. In welchem Sinne kann Kunst auch bei
Enthaltung von jeglichem inhaltlichem positivem Inhalt noch
da-raufhin beurteilt werden, wie es sich zu seiner gesellschaftlichen
Umwelt verhält?
Nun,
solche Kunstwerke provozieren ja gerade dadurch, dass sie eine Art
‚semantische Enthaltsam-keit‘ zur Schau stellen. Genau
diese Enthaltsamkeit ist aber selbst eine gesellschaftliche durchaus
relevan-te Aussage. Träfe dies nicht zu, wären sie in der
Tat vollkommen bedeutungslos. Die eigenen Kommenta-re der beiden
genannten Künstler (Duchamp und Cage) geben allerdings starken
Anlass zur der Vermu-tung, dass sie eine solche
(meta-)gesellschaftliche Aussage durchaus im Sinn hatten. So kann man
die ready
mades von
Marcel Duchamp als Aussage über die Metamorphose von
Alltagsgegenständen zu Kunstgegenständen durch ihre simple
Erhebung auf einen Museumssockel verstehen, und John Cages 4’33‘‘
könnte
man als radikalste Form der Verabsolutierung von Kunst verstehen,
insofern jedes subjektive Moment einer Interpretation der Komposition
von vornherein ausgeschlossen ist. 4’33‘‘
wäre
dann die radikale Verweigerung einer jeden Kontextualisierung des
Kunstwerks und damit auch eine Verweigerung genau jener
Vergleichbarkeit, die hier gerade gefordert wird. Auch eine solche
Haltung ist allerdings, trotz ihrer Negation, eine gesellschaftliche
Aussage, wenn auch eine am Rande des Solipsismus. Denn im Horizont
dieses Kunstwerks gibt es nur noch das absolute Ich des Nicht-Hörers
mit seinen Gedanken und Empfindungen während des Stückes.
Das
hier stark gemachte Urteilskriterium der gesellschaftlichen
Anschlussfähigkeit eines Kunstwerks jenseits allen subjektiven
Gefallens nimmt primär von jeder Verabsolutierung so genannter
‚guter’, ‚gelungener’ etc. Kunst Abstand.(22)
Daraus
folgt aber keineswegs, dass alles schon gut ist, nur weil es Kunst
neben
anderer Kunst ist. Dann wäre das genannte Kriterium überhaupt
kein Urteilskriterium mehr. Hinsichtlich des besagten künstlerischen
Solispsismus würde ein entsprechendes Urteil folglich eher
negativ ausfallen (womit im konkreten Falle allerdings kein
abschließendes Urteil über 4‘33‘‘
von
John Cage gefällt sein soll).
Sicherlich
ist das hier entwickelte Urteilskriteriums in ganz spezifischem Sinne
expertenfeindlich, denn der Kunstkenner neigt, vermutlich wie jeder
Experte zwecks Erhöhung seines sozialen Wertes, zur
Verabsolutierung seiner Ansichten. (23)
Solcherlei
Anmaßungen unterstützt der hier entwickelte Ansatz
definitiv nicht. Andererseits schließt das hier favorisierte
Urteilskriterium von Kunst keineswegs das ergänzende subjektive
Urteil. Ein solches subjektives Urteil sollte allerdings deutlich als
solches geäußert werden, um als sein Träger nicht in
den Verdacht ästhetischer Tyrannei zu geraten. Schon diese
Absonderung des subjektiven Empfindungsanteils von den sonstigen
Urteilskomponenten, die ihrerseits wohl auch eher tastend vorgetragen
werden sollten als mit apodiktischer Gewissheit, dürfte vielen
Zeitgenossen in der Begegnung mit Kunst nicht leicht fallen.
Ich
meine, es ist möglich, auch bei expliziter Anerkennung pluraler,
inhaltlich weit gestreuter Kunstauffassungen ein bestimmtes,
urteilendes Verhältnis zu künstlerisch heterogenen
Ensembles und einzelnen Kunstwerken einzunehmen, ohne die betroffene
Kunst damit absoluten Qualitätskriterien zu unterwerfen. Dies
erreiche ich, indem ich es objektiv auf seine Bezugnahme als
Besonderes unter anderem Besonderen hin untersuche und darüber
hinaus frei bin, in klarer Abgrenzung von diesem zurückhaltenden
objektiven Urteil auch mein subjektives Wohlgefallen, aus welchen
Gründen auch immer, in Anschlag zu bringen. Dieses ist dann
allerdings nicht mehr als eine Tatsachenäußerung über
mein eigenes Wohlgefallen, ohne jeden Allgemeinheitsanspruch.
Anmerkungen:
1)
Abgesehen von Hegel’schen
Primärtexten (vgl. Hegel [1969 ff]), die in diesem Falle gar
keine wirklichen Primärtexte, sondern Vorlesungsmitschriften
seiner Schüler sind, gibt aktuell Romano Pocai einen sehr
gründlichen Überblick über die Hegel’sche
Kunsttheorie und ihre Weiterentwicklung bis hin zu Adorno (vgl. Pocai
[2014]).
2)
Vgl. Heidegger [2012]. Der
Heideggersche Kunstbegriff wird im folgenden Text nicht weiter
berücksichtigt, weil er, trotz einiger Nähe zum späten
Kunstbegriff in Adornos Ästhetische
Theorie, nicht
auf die gesellschaftlich‐politische
Einbettung von Kunst eingeht. Heideggers Blick auf die Kunst, die er
nicht nur als einen Bezirk des Daseins sieht, sondern als Zugang zur
metaphysisch absoluten Wahrheit verstehen will, ist ihm– gegen
Kant – nicht nur subjektive Anschauung, sondern sogar mögliche
Quelle objektiver Erkenntnis. Gegen die soziologische Perspektive
jedoch, wie sie ab den 1930er Jahren prominent z.B. von Benjamin,
Adorno und Brecht entwickelt wurde, behauptet Heidegger in dem
besagten Aufsatz letztlich, dass sich die aus seiner Sicht wahre
Kunst einer gesellschaftlichen Instrumentalisierung entziehen würde.
Gegen diese Behauptung spricht allerdings nicht nur ein
überwältigender Fundus soziologisch‐empirischer
Forschung, sondern auch, dass sich aus einer solchen, im Kern
solipsistischen, Auffassung gar kein Kunstbegriff
mehr bilden
lässt, weil ihr am Ende jegliche Objektivierungsmöglichkeit
verloren geht.
3)
Siehe Benjamin [1955 ff].
4)
Adorno versucht in seinem
kunsttheoretischen opus
magnum, der
Ästhetischen
Theorie, die
Kunst in eine Art autonomer Region zu retten; darin ist er Heidegger
durchaus verwandt. Bei der Lektüre gewinnt man den Eindruck,
dass ‚die Kunst’ für ihn so etwas wie eine
utopische, verzweifelt‐virtuelle
Insel der Freiheit ist (siehe beispielsweise Adorno [1970], S. 33 f).
Das seltsam Heilige, das aus Adornos gesamten Verhältnis zur
Kunst – und zwar zur Kunst qua einzelnem Kunstwerk –
spricht, steht in merkwürdigem Widerspruch zu jenem
objektiv‐analytischen
Blick, den er andererseits für sich in Anspruch nimmt.
5)
Es ist aus Platzgründen
unmöglich, hier auch nur in Umrissen die Entwicklung des
modernen Kunstbegriffs darzustellen. Zur Auseinandersetzung von
Adorno und Benjamin sei nur soviel gesagt, dass Adorno auf Benjamins
zentrale Behauptung des Verlustes der Aura im technisch
reproduzierten Kunstwerk eher ablehnend reagierte (vgl.
Adorno/Benjamin [1995]) und dem Benjamin’schen Kunstbegriff
bereits vor dem 2. Weltkrieg das sog. ‚autonome Kunstwerk’
gegenüberstellte (diese Position baute er explizit allerdings
erst Jahrzehnte später in seiner Ästhetischen
Theorie aus).
6)
Dies betrifft heute
praktisch alle Gesellschaften, die allein schon infolge ihrer
inneren, größenbedingten Mannigfaltigkeit und der Vielfalt
ihrer Berührungen mit der übrigen Welt eine Vielheit der
Lebensformen und damit auch ihrer künstlerischen Ausdrucksformen
unterhalten. Nur sehr wenige, in der Regel aufgrund ihrer totalitären
Struktur extrem abgeschirmte Länder wie, z.B. Nordkorea, oder
medial von ihrer Außenwelt relativ entkoppelte,
nicht‐industrialisierte
Kleingesellschaften, z.B. im Amazonas oder in Zentralafrika, sind
folglich hiervon ausgenommen.
7)
Wie gerade die
Auseinandersetzung zwischen Benjamin, Adorno und Brecht (siehe
beispielsweise den Brief von Benjamin an Albert Cohn v. 10. August
1936 in Benjamin [1999], Bd. V, S. 349, aber auch die Reaktion
Adornos auf Benjamins Begriff des technisch reproduzierbaren
Kunstwerks) zeigt, wurde gerade in diesen Kreisen besonders die
politische, d.h. gesellschaftlich‐kollektive
Rolle der Kunst ihrer Zeit betrachtet. Dies ist grundsätzlich
ein Schritt in eine ähnliche Richtung wie die hier
eingeschlagene, jedoch mit dem Unterschied, dass man seinerzeit unter
dem Eindruck der nationalsozialistischen bzw. kommunistischen
Massenmanipulation hinsichtlich der politischen Aspekte von einer
ideologisch einheitlich gesteuerten Kunstwirkung ausging, d.h. von
der totalitären Gefahr, die sich auch über die
Instrumentalisierung der Kunst realisiert. Walter Benjamin an Albert
Cohn, Brief vom 10. August 1936; in: Walter Benjamin: Gesammelte
Briefe, Band V,
S. 349
8)
Siehe hierzu den Ersten
Teil der Kritik
der Urteilskraft,
Erstes Buch (Analytik
des Schönen)
in Kant [1977 ff], Bd. 10.
9)
Vgl. Bourdieu [1992]. Zwar
bezieht sich das von ihm zusammengetragene empirische Material nur
auf die französische Gesellschaft der 1970er Jahre; bei der
Lektüre des Buches kann man sich aber nur schwer dem Eindruck
entziehen, dass die dortigen Erkenntnisse nicht auch auf sämtliche
anderen modernen Industriegesellschaften anwendbar sind.
10)
So heißt es
beispielsweise in einem Kommentar der Berliner Zeitung zur
Transmediale
2004: „Die
Transmediale ist ein liberales Labor für neue Produktionsformen
der Kunst [...]. Die offene, flexible Gruppenarbeit, die
demokratische Gemeinschaft ohne ideologischen Überbau und
Hierarchien, die Zurückdrängung des Geniekults zugunsten
der gemeinschaftlichen Erarbeitung von Ideen, die Überwindung
von Originalität und Exklusivität als Kategorien des
Kunstbegriffs ‐
all das ist in
dieser Community, deren Mitglieder über die ganze Welt verstreut
sind, schon Realität. Hinter fast jeder Präsentation steht
ein junges Kollektiv.“ (Berliner Zeitung v. 02.02.2004, online
unter
http://www.berliner‐zeitung.de/archiv/mit‐antonio‐negris‐segen‐erprobt‐die‐transmediale‐neue‐wege‐derkunstproduktion‐
die‐naechste‐utopie‐ist‐digital,10810590,10148126.html)
11)
Siehe hierzu den Beitrag
auf der englischen Wikipedia‐Seite
zum Stichwort ‚Virtual
band’
unter http://en.wikipedia.org/wiki/Virtual_band.
12)
Dieser Verdacht oder
vielmehr Vorwurf wurde seinerzeit, d.h. vor ca. 100 Jahren, bereits
gegen die sog. Ready‐mades
von Marcel
Duchamp erhoben, und 50 Jahre später neuerlich gegen die
Siebdruckserien des Andy Warhol in seiner Factory,
die mit ihm als Urheber nur soviel zu tun hatten wie die
Produktionsanweisungen des Leiters einer Manufaktur gegenüber
seinen Angestellten. Zur selben Zeit machte auch John Cage im
musikalischen Bereich Experimente wie z.B. sein berühmtes Stück
4’33’’,
bei dem die Partitur bzw. Vorführanweisung aus vier Teilen
besteht, die allesamt mit „Tacet“ betitelt sind, will
heißen: Die Musiker spielen nichts. Später radikalisierte
Cage dieses Konzept sogar noch mit dem Nachfolgestück 0’00’’,
bei dem den Aufführenden überhaupt gänzlich
freigestellt wird, was sie während des Stücks tun. Solche
Experimente der Popära trafen allerdings auf ein wesentlich
revolutionsgeneigteres Publikum als zu früheren Zeiten und
wurden deshalb kaum noch als beliebig o.ä. kritisiert, sondern
eher frenetisch als besonders gewagt und anti‐spießig
gefeiert.
13)
Die Bezeichnung
‚Impressionist’ war beispielsweise ursprünglich eine
journalistische Schmähung von Louis Leroy, einem französischen
Kunstkritiker und Dichter, die er in einem Artikel vom 25. April 1874
in der Zeitung Charivari
verwandte, in
Reaktion auf Claude Monets Bild eines Sonnenaufgangs mit dem Titel
Impression
soleil levant.
14)
So gab es beispielsweise
selbst an sich hierin toleranten Jugendmusikszene in der jüngeren
Vergangenheit mehrfach Proteste, als sich herausstellte, dass ganze
Bands von ‚ihren’ Plattenlabels komplett erfunden waren
und die Idolhungrigkeit ihrer Verehrer folglich ins Leere lief.
Überhaupt lebt speziell diese Szene recht gut mit dem
auffälligen Widerspruch einerseits einer starken Beeinflussung
der Kunstproduzenten und ihrer Berater durch Marketingstrategien und
andererseits dem untilgbaren Glauben der jeweiligen Fans an die
‚Echtheit’ der in ‚ihrer’ Musik ausgedrückten
Empfindungen. Es zeigt sich allerdings auch gerade hier in den
letzten Jahren eine deutliche Wendung hin zur Unabhängigkeit von
den großen Labels und dem Aufstieg unabhängiger, meist
internetbasierter Vertriebswege, die durchaus ideologisch auch als
Rückbesinnung auf die eigenen Inhalte und Abwendung von
ästhetischer Fremdbestimmung formuliert werden.
15)
Mit ‚wir’
meine ich als Mitglied einer pluralistisch orientierten
Massengesellschaft meine Zeitgenossen in dieser Hinsicht.
16)
Ein solches
qualifizierendes Kriterium einer nicht nur gelegentlich
produzierenden Künstlerschaft ist nicht inhaltlich‐qualitativ
zu verstehen, sondern als allgemeine Abgrenzung zu solchen
künstlerischen Aktivitäten, die zwar ohne Zweifel Kunst
sein mögen, aber keinerlei soziale Bedeutung über die reine
Freizeitbeschäftigung hinaus haben. Es wäre sicherlich
überzogen, für diesen Teil der rein privaten
Kunstproduktion einer Gesellschaft einen allgemeineren sozialen
Anspruch geltend zu machen, der über den Spaß an der Sache
selbst hinausgeht.
17)
Siehe hierzu die Nr. 243,
258 und 293, zusammenfassend Nr. 580, in Wittgenstein [1984].
18)
Einer der wortgewaltigsten
Verfechter des Eigenwertes der multitude
gegenüber
jeder Art instrumentell‐organisierter
Vernunft ist Antonio Negri. Seine neomarxistische Perspektive wirkte
elektrisierend auf die weltweiten Globalisierungsgegner. Es ist
allerdings fraglich, ob politische Agitationen wie sein mit Michael
Hardt verfassten Buch (siehe Negri/Hardt [2000]), denen noch weitere
in ähnlicher Diktion folgten, zur strukturellen Bewältigung
des von ihm bezeichneten Problems beitragen.
19)
Die amerikanische sog. Tea
party‐Bewegung
ist ein sehr deutlicher Ausdruck dieser kollektiven Empfindung, aber
auch z.B. die bereits genannte Anti‐Globalisierungsbewegung.
Sie sehen die konkreten Vertreter ihres ideologischen Gegners, seien
es anmaßende Wall‐Street‐Banker
oder hochrangige Politiker, nur als Ausprägung dessen, was sie
bekämpfen, nicht als ihre Gegner selbst. Es geht ihnen folglich
um ein Prinzip der Abwehr von Fremdbestimmung, das sich gegen jeden
richtet, der sich ihm entgegenstellt.
20)
Vgl. Böckenförde
[1976], S. 395f.
21)
Vgl. Tönnies [1887]
22)
An dieser Stelle zeigt
sich, wie groß die Entfernung zwischen der hier geäußerten
Position und z.B. jener von Hegel oder Adorno ist, obwohl doch gerade
Letzterer sich besonders der gesellschaftlichen Relevanz seiner
künstlerischen Urteilskriterien so gewiss war. Aber auch mit dem
Heidegger’schen Kunstbegriff ist die hier geäußerte
Auffassung offensichtlich unverträglich, weil ich es für
ein ganz und gar aussichtsloses Unterfangen halte, metaphysisch
absolute Wahrheiten ausgerechnet aus der Besonderheit heutiger Kunst
herauslesen zu wollen.
23)
Als Beispiel einer solchen
Expertenmeinung über Kunst hörte ich kürzlich eine
Theaterrezension im Deutschlandfunkg (Sendung Kultur
heute vom
09.05.2014, 17.35 Uhr, zur Uraufführung von „Anne“
von Leon de Winter und Jessica Durlacher in Amsterdam). Dort
beschwerte sich der Rezensent unter anderem, dem Stück ermangele
es an „ästhetischer Plausibilität“. Das scheint
mir genau eine jener typischen Floskeln zu sein, mittels derer
Kunstexperten ihre Autorität durch Berufung auf absolute
Kriterien unter Beweis zu stellen versuchen. Hätte der Rezensent
die Autoren oder den Regisseur selbst zur ästhetischen
Plausibilität ihres Stücks befragt, hätten sie ihm
diese sicherlich deutlich erklärt. Damit ist die Objektivität
eines solchen Urteils allerdings dahin. Die Aussage, etwas sei
ästhetisch plausibel, besagt im Grunde nicht viel mehr als ‚das
hat mir gefallen’, ist also durch und durch subjektiv.
Literatur:
Adorno,
Theodor W. [1970]: Ästhetische
Theorie, Hg.:
Gretel Adorno und Rolf Tiedemann. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main,
111992
Adorno, Theodor W. / Benjamin, Walter: Briefwechsel
1928–1940.
Suhrkamp, Frankfurt am Main 21995.
Siehe hierin insbesondere den Brief von Adorno an Benjamin vom 18.
März 1936, S. 169–172. Benjamin, Walter: Schriften.
Hg.: Theodor W.
Adorno. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1955. Siehe darin insbesondere
den Aufsatz Das
Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. (3.,
autorisierte letzte Fassung 1939) in Bd. I, S. 366–405.
Benjamin, Walter [1999]: Gesammelte
Briefe. 6
Bände. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1999 Böckenförde,
Ernst‐Wolfgang
(Hg.) [1976]: Staat
und Gesellschaft.
Reihe: Wege
der Forschung,
Bd. CDLXXI. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976.
Teilweise neu abgedruckt in: ders.: Recht,
Staat, Freiheit.
Reihe: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (stw) Bd. 914, Suhrkamp
Verlag, Frankfurt am Main 1991. Bourdieu, Pierre [1992]: Die
feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Aus
dem Französischen von Bernd Schwibs und Achim Russer. Reihe:
Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 658. Suhrkamp Verlag,
Frankfurt am Main 51992.
Titel der Originalausgabe: La
distinction. Critique sociale du jegement.
Les éditions de minuit, Paris 1979. Hegel, Georg Friedrich
Wilhelm [1969 ff]: Werke
in zwanzig Bänden.
Auf der Grundlage der Werke von 1832‐1845
neu edierte Ausgabe. Redaktion: Eva Moldenhauer und Karl Markus
Michel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1969 ff. Siehe hierin die
Hegels Kunstbegriff betreffenden Bände 13 bis 15 (Vorlesungen
über die Ästhetik I‐III).
Heidegger, Martin [2012]: Der
Ursprung des Kunstwerkes.
Mit einer Einführung von Hans‐Georg
Gadamer und der erneut an der Handschrift überprüften
ersten Fassung des Textes von 1935 herausgegeben von
Friedrich‐Wilhelm
von Herrmann. Klostermann Verlag, Frankfurt am Main 2012. Kant,
Immanuel [1977 ff]: Werkausgabe
in 12 Bänden.
Hg.: Wilhelm Weischedel. Reihe: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft,
Frankfurt am Main 1977ff. Siehe darin insbesondere Bd. 10: Kritik
der Urteilskraft.
Negri, Antonio / Hardt, Michael: Empire.
Die neue Weltordnung. Campus
Verlag, Frankfurt am Main 2002. Titel der Originalausgabe: Empire.
Globalization as a new Roman order, awaiting its early Christians,
Harvard University Press 2001. Pocai, Romano [2014]: Philosophie,
Kunst und Moderne. Überlegungen mit Hegel und Adorno.
Xenomoi Verlag, Berlin 2014. Tönnies, Ferdinand [1887]:
Gemeinschaft
und Gesellschaft. Abhandlung des Socialismus und des Communismus als
empirischer Culturformen,
Leipzig 1887. Auch in: Ferdinand
Tönnies Gesamtausgabe Bd.
2, Walter de Gruyter Verlag, Berlin / New York 1998, oder online im
Volltext unter:
http://www.deutschestextarchiv.de/book/show/toennies_gemeinschaft_1887
Wittgenstein,
Ludwig [1984]: Tractatus
logico‐philosophicus,
Tagebücher 1914‐1916,
Philosophische Untersuchungen. In:
Werkausgabe Bd. 1. Reihe: Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft (stw) Bd.
501, Frankfurt am Main 91993.
Michael Seibel
Fragen an den Text von Wolfgang Sohst:
Warum
von „Kunst“ sprechen? Warum verzichten wir nicht einfach
auf den Begriff?
Da
ist ein 'Kunstwerk', es sei zunächst eine Konvention, es so zu
nennen, und ein einzelner Mensch, der es anschaut. Nein, ich sehe
dutzende Menschen in einem Museum das selbe Bild betrachten. Und
jetzt sind da Hunderte, die einem Orchester beim selben Konzert
lauschen. Man gibt Schönberg, einige wirken angestrengt und
finden es scheußlich, weil ihnen die Musik ungewohnt vorkommt,
andere sind ganz hingerissen und vergleichen im Kopf Schönberg
mit Bach. Diese faszinierende Strenge...
Was
heißt hier 1:1 Beziehung, wenn nicht, dass es immer irgendwie
ein Werk gibt und rezipierende einzelne Menschen? Man irrt sich,
wenn man meint, ein Kant, ein Adorno, ein Heidegger habe irgendwie
nicht mitbekommen, dass ins Verhältnis zum Werk nicht ohne Ende
„ästhetische Erziehung“ (Schiller) einfließt,
dass Opa und Oma gleichsam immer schon mithören und nicht nur
das, dass sie das Werk selbst auch mitproduzieren. »Kunst
ist lange bildend, ehe sie schön ist.« Ist O-Ton Goethe.
Was
soll dann der Hinweis auf die 1:1-Beziehung. Was wäre daran
heute nicht mehr zeitgemäß? Unter pluralen Bedingungen ist
der Bildungsbedarf, der erfordert ist, um Objekten Kunststatus zu
attestieren, größer denn je, und gleichzeitig muss, wie es
aussieht, damals wie heute ein konkreter Mensch dem Werk lauschen, ob
Punk, ob Nerd, ob Hölderlin.
Wolfgang
Sohst sagt: „Ich werde in diesem Text zu zeigen versuchen,
wieso beide dieser Verankerungen des Kunstbegriffs im
einzelnen Menschen einerseits und im einzelnen Kunstwerk andererseits
den sozialen Verhältnissen in den heutigen offenen, d.h.
ideologisch heterogenen Massengesellschaften nicht mehr gerecht
werden.“
Gegen
wen setzt sich Wolfgang Sohst damit eigentlich ab? „Verankerungen
des Kunstbegriffs im einzelnen Menschen“, meint das den
Künstler als Handwerker des Mittelalters oder das Genie der
Romantik? Weil das Mittelalter in seinen Künstlern nichts als
Handwerker gesehen hat, war der mittelalterliche Handwerker sicher
nie so etwas wie der Wesenskern eines mittelalterlichen Kunstbegriffs
und wenn sich die ästhetische Schöpfungskraft für die
Romantik im Genie verkörperte, so meint das gerade nicht den
empirischen Menschen. In der Romantik wird gerade nicht ein
Kunstbegriff im einzelnen Menschen verankert, sondern umgekehrt wird
der einzelne Mensch, sofern er zu gestalten beginnt, aus einem
Kunstbegriff heraus verstanden, der allerdings nirgends sonst
verwirklicht wird als im freien Beginn einer Tätigkeit.
Diskutieren ließe sich von heute aus höchstens, ob dies
auch eine kollektive sein kann. Wenn Kant vom Menschen als
Vernunftwesen spricht, leitet er nicht die Vernunft vom empirischen
Menschen ab, sondern versteht umgekehrt menschliches Handeln aus
dessen Möglichkeit der Partizipation an der Idee der Vernunft.
Und Kant kann sich durchaus auch „vernünftige“
soziale Formationen vorstellen, also nicht nur einzelne.
Johsts
Terminus „Verankerungen des Kunstbegriffs im einzelnen
Menschen“ ist streng genommen ein Gespenst ohne Gegenstand. Und
der Terminus „Verankerungen des Kunstbegriffs (…) im
einzelnen Kunstwerk“ ist das zweite Gespenst. Mit dem Urteil,
etwas ein Kunstwerk zu nennen, war regelmäßig verbunden,
ihm einen reichen Verweisungszusammenhang zu attestieren, es in
herausragender Weise am Spiel von Metonymie und Metapher teilnehmen
zu sehen. Dem nachzugehen wäre viel interessanter als den Popanz
von „Verankerungen des Kunstbegriffs (…) im einzelnen
Kunstwerk“ aufzubauen.
In
einer Anmerkung, die tiefer blicken lässt als sie möchte,
kritisiert Wolfgang Sohst
Heidegger: „Der Heideggersche Kunstbegriff wird im folgenden
Text nicht weiter berücksichtigt, weil er (...) nicht auf die
gesellschaftlich-politische Einbettung von Kunst eingeht.“
Heidegger verstehe Kunst „als Zugang zur metaphysisch absoluten
Wahrheit“. Heidegger behaupte, „ dass sich (...) wahre
Kunst einer gesellschaftlichen Instrumentalisierung entziehen würde.
Gegen diese Behauptung spricht allerdings nicht nur ein
überwältigender Fundus soziologisch-empirischer Forschung,
sondern auch, dass sich aus einer solchen, im Kern solipsistischen,
Auffassung gar kein Kunstbegriff mehr bilden lässt, weil ihr am
Ende jegliche Objektivierungsmöglichkeit verloren geht.“
Wenn
es darum geht, einen Kunstbegriff allererst zu entwickeln, wieso
setzt Wolfgang Sohst dann voraus, dass er bereits da
„gesellschaftlich-politischer Einbettung“ bedarf?
Natürlich ist Kunst ein gesellschaftliches Phänomen und die
Reflexion darauf ist immer möglich, aber warum sollte sie für
den Begriff auch konstitutiv sein?
Wenn
dein Zahnarzt feststellt, dass dein Backenzahn kariös ist, muss
er diese Aussage nicht durch eine gesellschaftliche Analyse
untermauern, obwohl jede Karies wahrscheinlich ein gesellschaftliches
Verhältnis zur Zuckerindustrie abbildet.
Meint
Wolfgang Sohst also, die Sache sei schon ausgemacht? Nun gut, aber
warum beansprucht er dann, den Kunstbegriff grundlegend zu entwickeln
– was er, da stimme ich zu, heute wieder nötig hat.
Alternativ hättet er wie Bourdieu an eine soziologische
Untersuchung denken können. Aber man merkt es natürlich,
wenn man weiter liest: es geht hier nicht um eine soziologische
Untersuchung, für die er richtigerweise auch keine begrifflichen
Mittel bereitstellt, sondern um eine philosophische Frage.
Die
Bemerkung, Heidegger verstehe „ Kunst (…) als Zugang zur
metaphysisch absoluten Wahrheit“, scheint mir all zu lax
dahingesagt. Heidegger spricht davon, dass Kunst Unverborgenheit von
Sachverhalten herstellt, die sonst unter
Alltagsselbstverständlichkeiten ebenso verschüttet und
verstellt sind wie unter zum Teil sehr alten Denkgewohnheiten.
Heidegger denkt, dass Kunst in diesem Sinn Wahrheitsgeschehen ist.
Unverborgenheit hat mit „absolute Wahrheit“ nichts zu
tun. Der problematische Begriff ist bei Heidegger nicht der des
Absoluten (also ein Gottesbegriff), sondern der des Ursprungs. Ich
mag den Heideggerschen Sprachkitsch auch nicht, aber Heidegger macht
zunächst einmal den Kunstbegriff selbst stark genug, dass
Fleisch daran ist, das gesellschaftlich reflektiert werden kann. Und
eins stimmt: die gesellschaftliche Reflexion ist Heideggers Sache
nicht.
Heidegger
sagt übrigens nirgendwo, dass sich „Kunst einer
gesellschaftlichen Instrumentalisierung entziehen“ würde,
sondern wenn überhaupt, dass ihr Ursprung ein Seinsverhältnis
ist, ob sich dies auch nicht anders als ein gesellschaftliches
Verhältnis artikulieren kann. Ich muss sagen, den Beginn mit dem
Gedanken, dass Kunst etwas erscheinen lässt, scheint wir viel
plausibler als die Nachschau nach der Selbstbehauptung des
Individuellen.
By
the way: wenn ein Fundus an soziologischen Untersuchungen
„überwältigend“ ist, sagt das nichts über
den Fundus, sondern über die Nerven dessen, der dies Attribut
vergibt.
Ich
glaube, ich gebe Wolfgang Sohsts These nicht ganz falsch
folgendermaßen wieder:
In
einer Gesellschaft, die das Individuum zum Ephemeren macht, ist Kunst
„der Versuch eines Ausdrucks der Selbstbehauptung des
Individuums in seiner Besonderheit.“ Und Sohst setzt fort mit
der Zusatzthese: „Als solche unterscheidet sie sich deutlich
von der frühromantisch‐irrealen Einbildung der
Einzigartigkeit des Individuums.“
Wenn
Kunst eine Form der Selbstbehauptung des Individuellen ist, dann
sicher nicht die einzige Form. Selbstbehauptung wäre vieles: Das
Bestehen auf Subsistenzmitteln – aufs 'Fressen vor der Moral'
-, politisch das Bestehen auf eigenen Positionen und Interessen,
Formen der Verweigerung, Formen, die sich dem Zweckmäßigen
versagen, Dionysisches aller Art, in Mannigfaltigem kann
Selbstbehauptung sich ausdrücken. Selbst in Gier und Askese. Was
von all dem qualifiziert Kunst?
Ich
würde unterscheiden: Längst nicht jeder Akt des Bestehens
auf Verschiedenheit liefert zugleich seine eigene Rechtfertigung,
denn nicht jeder solche Akt hat es über seinen Vollzug hinaus
nötig, sich zu rechtfertigen. Und falls nun Akte des Bestehens
auf Verschiedenheit dabei sind, die sich auch rechtfertigen, so
scheint mir das nicht spezifisch für Kunst und liefert kein
Kriterium, heute nicht und früher nicht, wodurch sich Kunst von
Nicht-Kunst unterscheiden ließe. Solche Selbstrechtfertigung
wäre zudem zu unterscheiden
a) von „Anschlußfähigkeit“
(Vorsicht, Herr Sohst, mit Luhmann-Vokabular. Das ist immer ein
sicheres Mittel, um Individuelles verschwinden zu lassen.) an
gleichartige Diskurse – Gruppensinn – man versteht sich,
wenn man einen Geschmack (in der Tat ein ästhetisches Kriterium)
und eine Sprache teilt – das Bestätigte ist hier aber
gerade nicht die Pluralität, sondern die - sorry - jeweilige
romantische Alleinstellung im Gemeinsamen, ein
'Individuelles-Allgemeines' und
b) von derjenigen „Rechtfertigung
der Verschiedenheit“, die gerade nicht auf der Ebene der
Produktion von Kunst, sondern deren institutioneller Präsentation
passiert, sei es im Museum oder im Karneval, in dem auch jeder Jeck
anders ist. Auf der Ebene der Ausstellungsmacher ist Pluralität
gegenwärtig gerade Mode. Alles andere wirkte nun auch wirklich
zu borniert. (Leider kann sich das schnell ändern, und das
Bornierte wieder Mode werden.) Für solchen Respekt gegenüber
dem Pluralen ist so etwas wie „Selbstbehauptung des
Individuellen“ sicher nicht ursächlich.
Ist
Kunst im Augenblick so etwas wie der Kult der Pluralität? Falls
das so ist, wer feiert diesen Kult, wer sind die Priester und wer
betet ihn mit und nach?
Außerdem
hätte ich gern gewusst, was am Pluralen dran sein soll. Ich
finde als das, woran etwas ist, immer Besonderes. Plurales, an dem
als solchem etwas ist, wäre Ganzheit, organische gar, ein
Begriff, der bis zum Hals in der Klassik steckt. Aber im Ernst, was
an Pluralität bindet die Aufmerksamkeit, wenn nicht je einzelnes
oder bestimmte konkrete, zusammengesetzte Formen?
Sohst
liefert keinen Begriff des Pluralen. Falls er meinen sollte, das
Plurale sei ja gerade die Vielfalt, aus der allein je interessantes
Anderes auftaucht und das also sei sein Wert, Vielfalt, die
bestenfalls jederzeit auf eine entsprechende Offenheit des Individuum
treffen solle, dann, formuliert er wider Willen einen zutiefst
romantischen Gedanken. Mit seiner Abgrenzung von der Romantik
unterschätzt er diese m.E. gewaltig. Man gönne sich ein
paar Stunden Schelling.
„Pluralität“
wird zum Schlüsselbegriff . Was uns verbinden soll, ist das
Bewusstsein, verschieden zu sein. „Verschiedenheit als Kern der
Gemeinsamkeit“. Heißt das im Umkehrschluss, dass es uns
trennen sollte, Gemeinsamkeiten zu entdecken?
Üblicherweise
ist Verschiedenheit nicht per se etwas, das Menschen miteinander
verbindet, es sei denn im Medium von Arbeitsteilung. (Oder
metaphysisch in der Liebe, aber da wäre ein anderes großes
Buch aufzuschlagen). Wie also kann sie, ohne aus Arbeitsteilung ihren
Sinn zu beziehen, ohne in Arbeitsteilung identifiziert zu sein, zum
„kleinste(n) gemeinsame(n) Nenner einer entsprechend
orientierten Künstlerschaft“ werden.
Sohst
nennt das ein „negatives“ Kriterium, „die
gemeinsame Ablehnung einer inhaltlich einheitlichen und
widerspruchsfreien Auffassung von Kunst.“
Nun
kann in der Tat die Ablehnung von etwas Menschen in der Revolte
miteinander verbinden, wenn das Abgelehnte eine Gewalt gegen mich
darstellt, sowie es eine Gewalt gegen den anderen darstellt.
Allerdings ist das Gemeinsame daran keineswegs die Pluralität
und das Anerkannte nicht die Andersheit des Anderen. Das „Bekenntnis
zur Pluralität“ bleibt in der Revolte leer.
„Ohne
dieses Bekenntnis (zur Pluralität) wäre die Künstlerin
bzw. der Künstler verloren in der überwältigenden
Mehrheit Andersdenkender, die bestenfalls eine chaotisch
konkurrierende Mannigfaltigkeit, aber keine gemeinsame Atmosphäre
mehr schaffen können.“
Was
ist das für eine Denkfigur: „gemeinsame Atmosphäre“
versus „chaotisch konkurrierende Mannigfaltigkeit“?
Wen
betrifft sie? Den Künstler/die Künstlerin. Der Künstler/die
Künstlerin wird also zunächst gesehen als jemand, dem es in
seinem Tun um Selbstbehauptung geht. Diese Selbstbehauptung nun habe
gleichsam zwei Ausprägungen, die sie annehmen kann, eben positiv
als „gemeinsame Atmosphäre“ oder negativ als
„chaotisch konkurrierende Mannigfaltigkeit“.
Der
Königsweg zum Ersten wäre die Affirmation von Pluralität.
Was anders sollte das sein als auch wieder nichts anderes als die
„chaotisch konkurrierende Mannigfaltigkeit“? Es gälte,
diese um das Moment der Konkurrenz zu bereinigen.
Nun
kommt die Konkurrenz aber leider nicht durch die Akteure, die
Künstler und Künstlerinnen ins Spiel und ist dabei auch
nicht durch deren Bekenntnis zur Pluralität zu bereinigen,
sondern durch die Verhältnisse, in denen sie arbeiten.
Selbstbehauptung und Bekenntnis zur Pluralität passen unter
Konkurrenzbedingungen schlecht zusammen.
Ich
sehe ferner nicht, wie ein Rekurs auf „Atmosphäre“
zu einem zeitgemäßeren Kunstbegriff führen soll. Ist
denn Kunst so etwas wie gemeinsame Atmosphäre der Künstler,
der Rezipienten, der Käufer?
Ehrlicher
wäre, den Künstler als Opfergestalt zu beschreiben. Es
scheint um ihn zu allerletzt zu gehen.
Unglücklicherweise
sind Künstler ja beachtlich leidensfähig und immer wieder
jung genug, um Kunst als Aphrodisiakum zu empfinden. Was
unterscheidet das vom Autor offenbar positiv besetzte „Prinzip
der Heterogenität“, von dem der Text spricht, vom
gesellschaftlichen Zwang, der sich heute durch alle Berufsgruppen
durchzieht, sich selbst als den entscheidenden Unterschied in irgend
einem Detail des Wirklichen zu behaupten? Nichts anderes ist die
kompetitive Kompetenz, die im Berufsleben unerbittlich von jedem
gefordert wird, der mehr als 400 Euro verdienen möchte. Leben
und leben lassen verträgt sich damit schlecht.
Selbstverständlich hätten wir alle die gelassenere Haltung
lieber. Wir könnten um so besser die gebotene Vielfalt genießen.
Aber
dieser Wunsch soll uns jetzt, einmal artikuliert, zu einem
zeitgemäßen Kunstbegriff verhelfen? Die idealen
Rahmenbedingungen des ästhetischen Genießens? Der
Pluralitätsbegriff beginnt, sich hier ziemlich genau mit dem
nachbarocken des gebildeten Geschmacks zu decken, der auch nicht viel
mehr tut, als Verhältnisse zu beschreiben, unter denen sich
Vielheiten genießen lassen.
Aber
warum dann überhaupt noch von Kunst sprechen? Dann sind die
Werke eben konsumierbare Güter wie alkoholische Getränke
oder Autos. Jeder weiß, dass der genießende Blick auf
einen 65er Aston Martin ein gerüttelt Maß an ästhetischer
Erziehung voraussetzt, wenn auch deutlich weniger als die
literarische Freude über ein „Wie wenn am Feiertage“.
Wenn sie wirklich Genuss bieten, dann kann man den Rekurs auf die
Differenz zu anderen Waren auch lassen, auf die Differenz von
Geilheit und Erhabenheit.
Ästhetische
Wirksamkeit und Kunstcharakter sind nicht das selbe.
Der
Autor schreibt: „Jedes darüber hinausgehende positive
Kriterium eines gemeinsamen Kunstbegriffs wäre dagegen nicht nur
an sich selbst bereits beliebig, sondern schon deshalb aus der
immanenten Logik pluraler Kunstpraxis heraus nicht allgemein, weil
stärkere Vorgaben genau dieses erste Prinzip der Heterogenität
verletzen würden.“
Das
verstehe ich nicht. Wenn plurale Verschiedenheit kennzeichnend für
Kunst ist, dann wären „darüber hinausgehende positive
Kriterium eines gemeinsamen Kunstbegriffs“ nicht beliebig,
sondern unmöglich.
„Das
zentrale Kennzeichen des pluralen Kunstbegriffs ist also ein eminent
negatives: die Abwesenheit material verbindlicher gemeinsamer
Auffassungen von Kunst, positiv gewendet zur tolerierten
Gemeinsamkeit der Verschiedenen.“
Und
schon wieder macht jemand den Fehler, gegen den schon Sartre
polemisiert hat und erklärt Napoleons Niederlage bei Waterloo
mit der Abwesenheit der Luftwaffe.
„Ein
solches Fanal der Pluralisierung ist allerdings notwendig zugleich
auch eines der Partikularisierung: Jeder für sich und alle für
keinen. Nur unter dieser Prämisse ist das relativ
konkurrenzfreie Nebeneinander unterschiedlichster Stile, Materialien,
Inhalte und Formensprachen denkbar.“
Man
muss auch hier widersprechen. Es ist nicht konkurrenzfrei, es ist
indifferent gegeneinander.
„Dies
kommt auch einem ganz ähnlich gestimmten Publikum entgegen: Die
Konsumenten unter den Rezipienten haben ihre eigenen
Verwendungsweisen für Kunst und folglich einen je eigenen
Geschmack. Sie beanspruchen in der Regel kaum, dass ihre Nachbarn
diesen mit ihnen teilen. Man hat zu viele Nachbarn, um eine solche
Forderung auch nur ansatzweise durchsetzen zu können. Kopfhörer
auf und durch.“
„Das
zentrale Kennzeichen des pluralen Kunstbegriffs“ wäre
demnach, dass er keins hat.
Vonnöten
wäre eine Sprache über das Ästhetische am konkreten
Werk. Das dies heute als schier unlösbare Forderung erscheint
anlässlich der uneingrenzbaren Vielfalt des Kunstschaffens, mag
verständlich scheinen, aber warum so zaghaft? Innerhalb der
empirischen Wissenschaften scheitert die Forschung ja auch nicht an
der uneingrenzbaren Verschiedenheit ihrer Gegenstände.
Wenn
Johst sagt, er wolle keine dem Kunstwerk fremden Kriterien
akzeptieren, wäre mindestens an einem Beispiel zu zeigen, wie
man sich das denn vorstellt, ein Kunstwerk, das seine eigenen
Kriterien liefert. (Und warum sollte das nicht gehen? Heidegger macht
da einen Vorschlag, aber der findet bei Johst kein Gehör.) Das
wäre mindestens nachzureichen.
Sein
nächster Versuch: „Wohl aber kann ich das Besondere auf
seine Verbindung zu anderem Besonderen einerseits und seine
Integration in eine individualistische Gesellschaft insgesamt hin
betrachten. Mit anderen Worten: Ich kann ein Kunstwerk auch in seiner
unangetasteten Besonderheit daraufhin befragen, ob es Hinweise darauf
enthält, wie es sich zu seiner gesellschaftlichen und speziell
künstlerischen Umwelt verhält. Enthält es
beispielsweise ästhetische Zitate, die nicht seiner eigenen
Wesensart entspringen? Bietet es Anschlüsse jenseits seiner
eigenen, immanenten Formgesetzlichkeit, die auf eine bestimmte, mehr
oder weniger deutlich artikulierte Wahrnehmung der Außenwelt
des Produzenten schließen lassen?“
Na
klar enthält es Zitate, sofern man den Produzenten für
keinen Trottel hält, der ständig das selbe Rad neu
erfindet! Aber das ist auch wieder nicht spezifisch für Kunst,
sondern betrifft die unterschiedlichsten Produktionen.
Ist
das jetzt eine Wiederauflage der Forderung nach gesellschaftlichen
Bewusstsein?
Das
Argument scheint mir ein etwas zaghafter Versuch zu sein, das Thema
Wahrheit als Kunstkriterium ins Spiel zu bringen.
Nebenbei:
Der Ausdruck „immanente Formgesetzlichkeit“ ist ohne ein
gerüttelt Maß an Reflexion auch nichts anderes als
Selbsthypostasierung. Das Gesetz tut dabei, was es immer tut, es
fordert Achtung. Damit folgt man einem autoritären Sentiment.
Mich
würde interessieren, warum Johst den Ausdruck Kunst
überhaupt verwendet? Warum besteht er darauf, dass das ganze
Kunst heißt? Aus Respekt vor der Tradition? Weil alle es so
nennen? Darüber verliert er kein Wort.
Seinen
Kunstbegriff fasst er zusammen als eine Mischung aus einer
mühevollen, notwendig provisorischen Rationalisierung des
Anderen und des Rätsels, das man sich selbst ist, indem man sich
als genießend entdeckt. (Er sagt, sein Kunsturteil komme
zustande, indem er das Werk „objektiv auf seine Bezugnahme als
Besonderes unter anderem Besonderen hin untersuch(t) und darüber
hinaus frei (ist), in klarer Abgrenzung von diesem zurückhaltenden
objektiven Urteil auch (s)ein subjektives Wohlgefallen, aus welchen
Gründen auch immer, in Anschlag zu bringen.“)
Sohst
hat am Ende auch etwas für den Ritus über, worin Kunst
Feier und Belehrung ist, etwas zwischen Messe, Schule und Party.
Ich
meine, „Selbstbehauptung des Individuellen“ funktioniert
als Kunst-Kriterium nicht und wenn doch, dann gerade in seiner
romantischen Form.
Den
Wunsch nach „Selbstbehauptung des Individuellen“ verstehe
ich sehr gut, wie immer man auch dem darin Behauptete den Charakter eines Phantasmas
zuweist oder nicht, aber, so romantisch der Wunsch im Kern ist,
ihm Ausdruck zu verleihen allein ist noch keine Kunst.
Also
zurück auf Anfang.
Warum
sollte man auf dem Ausdruck „Kunst“ bestehen?
Und sollte
man das überhaupt?
Der Begriff der Pluralität liefert mir dazu bis jetzt keine Entscheidungshilfe.
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