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Joseph Beuys im Gespräch

• Gino Bühler: bisher unveröffentliches Gespräch   (Last Update: 17.10.2014)

Über den Begriff der Plastik und über Gesellschafts-Gestaltung
(mit einem Exkurs zu Chancen und Gefahren der Informationsgesellschaft)



Ich freue mich, hier erstmals in zwei Teilen das Gespräch zu veröffentlichen, das Gino Bühler am 18. September 1980 mit Joseph Beuys in dessen Oberkasseler Haus führte.

Beuys begründet darin seine ursprüngliche Hinwendung zur Kunst mit seiner Weigerung, sich zu einem Zeitpunkt zu einem Spezialisten machen zu lassen, zu dem es um generelle gesellschaftliche Ausrichtungen geht.

Beuys versteht den Künstler als Generalisten. Aber auch die akademische Kunst, auf die er gestoßen sei, habe ihm nur einen verengten Kunstbegriff angeboten.

Was ist eigentlich Plastik? „Man ist mit einer Disziplin konfrontiert, in der der Begriff für das, was man tut, eigentlich fehlt.“

Beuys stößt beim Nachdenken über den Begriff der Skulptur auf drei wirkende Kräfte, auf eine bestimmte gedankliche Grundform, die seines Erachtens nach für alle schöpferischen Prozesse charakteristisch ist: auf

a) ein Moment der Unbestimmtheit und chaotischen Vorgegebenheit, die
b) durch Bewegung ergriffen und
c) in Form gebracht wird.

In diesen drei Kräften erkennt er auch die Grundelemente der eigenen künstlerischen Aktionen. An allen ist zu arbeiten. So biete ein Material wie Fett bereits von seiner stofflichen Seite bei Erwärmung und Erstarrung spezifische Möglichkeiten, bestimmte und unbestimmte Form durch Bewegung zu erreichen und aufzulösen.

Das chaotisch Vorgegebene kann ebenso ein physisches Material wie ein psychisches Korrelat sein. Damit greift sein Kreativitätsbegriff ebenso auf die Gestaltung des Sozialen aus.

Kulturverhalten der Gegenwart zeigt mannigfache Spaltungen zwischen gefühlsmäßigen Bewegungskulturen, Aktionismen und z.B. viel zu abstrakten politischen Bewegungen.

Hier wirken nach Beuys' Dafürhalten Todesaspekte, Verzerrungen, die nicht harmonisch ausgeglichen sind durch Bewegung des Gefühlslebens und Bildhaftes. Solche Fragmentierung wird zum kritischen Gestaltungsauftrag. Sie wäre zu überwinden. Um dies in Angriff zu nehmen, bedürfe es nicht allein einer neuen Gesellschaftstheorie, sondern einer neuen Theorie der Kreativität.

Beuys befragt seine eigene Erfahrung aus der Arbeit mit Menschen. Bei jedem seiner Studenten lasse sich fragen: Welche Kräfte in der Kreativitätskonstellation die Führung haben. Zeigen sich Disproportionalitäten, die sich auflösen lassen?

Erfahrungen wie diese sind regelmäßig und lassen sich zu einer Theorie der Kreativität systematisieren. Der Bezug auf einen engen Kunstbereich lässt sich erweitern auf den grundsätzlichen Bezug auf jede menschliche Tätigkeit.



Interview vom 18. September 1980:




Erster Teil




Zweiter Teil



Beuys rekonstruiert im weiteren Gesprächsverlauf die geistesgeschichtliche Entwicklung seit der Antike, beginnend mit der schrittweisen Auflösung des Pandämoniums der antiken Mythologie bis hin zum modernen materialistischen Wissenschaftsbegriff. Er hält diese Bewegung einerseits für eine entscheidende Verengung der antiken Dreiheit von Geist, Seele und Leib auf den Leib allein. Sie führe zu einem abstrakten Formprinzip. Aber andererseits sieht Beuys in der Entwicklung von der Antike zur Moderne faktisch auch einen Prozess der Weiterentwicklung der menschlichen Freiheitsmöglichkeiten. Ein doppeltes Protestpotential sei heute wirksam: einerseits der zunehmende „Reduktionsprotest“, wie es Beuys nennt, gegen den Verlust, der mit der Verengung des Menschenbildes auf pure Materialität verbunden sei und der Protest gegen die gänzliche Ungelöstheit der sozialen Frage. Kreativität sei, so Beuys im Gespräch, nur aus einer Freiheitsphilosophie verständlich.

Kunst müsse aus ihrer Nischenexistenz im Kulturbetrieb ausrücken. Der erweiterte Kunstbegriff habe Bezug auf menschliche Arbeit als ganze zu nehmen und sei wirtschaftlich bestimmend zu machen. Das fasst Beuys auch im vorliegenden Gespräch in seine bekannte Formel:
Kunst = Kapital
Konkretes Kapital seien ausschließlich die menschlichen Fähigkeiten. Man werde erkennen, dass das Geld kein Kapital ist. Geld werde über kurz oder lang aus dem Wirtschaftskreislauf herauszunehmen sein.

Der erweiterte Kunstbegriff stellt ausgehend vom Begriff der Plastik über den Werdegang des menschlichen Bewusstseins die Grundfrage nach der Gestalt der Gesellschaft.

In einem Exkurs mit Seltenheitswert äußert sich Beuys auf Bühlers Nachfrage hin zu Kommunikations-Chancen und Überwachungs-Gefahren durch die moderne Informatik. 1980 kündigte sich noch keine der heutigen Entwicklungen an. Obwohl Beuys die permanente Missbrauchbarkeit von Informationstechnologie durch politischen Machtsystemen sieht, besteht er auf dem konkreten Menschen als Letztentscheider über Chancen und Gefährdungen, seine Position ist nach eigener Aussage die des Moralisten. Kreativitätstheorie ist Philosophie der menschlichen Fähigkeiten. So weit die Paraphrase der beiden Gesprächsteile.

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