Wo die Moral herkommt
Michael Seibel • Anläßlich der Lektüre Nietzsches (Last Update: 24.02.2014)
„Ulrich
hatte jedoch damals keineswegs die Absicht, für Moosbruggers
Schicksal auch im weiteren Verlauf zu sorgen. Die entmutigende
Mischung von Grausamkeit und Erleiden, die das Wesen solcher Menschen
ist, war ihm ebenso unangenehm wie die Mischung von Genauigkeit und
Fahrlässigkeit, die das Merkmal der Urteile bildet, die man über
sie zu fällen pflegt. Er wußte genau, (...) daß der
Staat schließlich Moosbrugger umbringen wird, weil das in einem
solchen Zustand der Unfertigkeit einfach das Klarste, Billigste und
Sicherste ist.“
(Robert Musil, Der
Mann ohne Eigenschaften, Hamburg 1970, S 244)
Zur
ersten Abhandlung: »Gut
und Böse«, »Gut und Schlecht«
Die
Werte
gut
und böse
sind bedingte
Erfindungen,
nach deren Wert
für das Leben
zu fragen ist. So Nietzsche.
Also:
1. Was meint gut?
2. Was meint böse?
3. Wer hat diese Werte
erfunden?
4. Unter welchen Bedingungen?
5. Was machen sie aus dem, der sein
Leben mittels dieser Werte beurteilt findet?
„das
Urtheil »gut« rührt nicht von Denen her, welchen
»Güte« erwiesen wird! Vielmehr sind es »die
Guten« selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen,
Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr
Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden.“
Das
Urteil »gut« sei ursprünglich eine affektive,
freudige Selbstbejahung und als das Ausdruck des eigenen sozialen
Ranges. Also Ausdruck eines bestimmbaren Lebensgefühls und
anders gesagt, Ausdruck der Selbstgefälligkeit des
Vornehmen, Mächtigen.
Darin
steckt die Behauptung, dass unter bestimmten Bedingungen persönliche
Stärke, Lebensgefühl und sozialer Rang miteinander
verbunden sind.
Persönliche
Stärke verschafft ein bestimmtes Lebensgefühl und hebt
zugleich den sozialen Rang. Persönliche Stärke ist unter
normalen Bedingungen nicht etwas, das den sozialen Rang senkt. Aber
ist es nicht naiv, sie für allein ausreichend zu halten,
jemanden in einen gehobenen sozialen Rang zu heben, als gäbe es
keine Nieten in Nadelstreifen oder vielleicht besser Bluter unter der
Krone?
Nietzsches
Behauptung hat zwei Teile: Lebensgefühl und Rang. Beginnen wir
beim Lebensgefühl. Wem kann Nietzsche sinnvollerweise ein
schlechthin selbstbejahendes Lebensgefühl zuschreiben? Dem
Fürstenkind
an der Mutterbrust (Die Psychoanalyse hat das für bestimmte
Entwicklungsphasen durchaus als Machtgefühl gesehen, aber
natürlich nicht als soziales Differenzierungskriterium.),
dem alten dementen König (den Demenz als Selbstbejahung zu
nehmen, ist gar nicht so abwegig, ich erinnere an den dementen
sterbenden Faust), dem jüngeren Bruder, der bei der Erbfolge
nicht zum Zuge kommt nicht (der ist das genaue Gegenbild, der
Inbegriff der Schwäche) und der Prinzessin nicht, die man nicht
gefragt hat, wen sie heiraten möchte. Offenbar diesen allen
nicht.
Es
fragt sich demnach, was mit der Verbindung von selbstbejahendem
Lebensgefühl und sozialem Rang gemeint sein soll. Die Gestalt,
in der sich Rang und selbstbejahendes Lebensgefühl verbindet,
ist offenbar eine eher literarische Gestalt, eine Idealgestalt, ein
Jungsiegfried. Sie ist bis heute Werbe-Ikone. Über dieses
Männerbild (Sicher ist es ein Männerbild) werden bis heute
erfolgreich Autos verkauft (Freude am Leben, Freude am Fahren).
Ein
bestimmtes Lebensgefühl heißt nicht, dass alle Starken mit
einem identischen Lebensgefühl herumlaufen und
sich ähneln wie ein Ei dem anderen, aber dass im Sinne
Nietzsches starke Menschen ein signifikant anderes Lebensgefühl
haben als schwache Menschen. Können wir folgen? Was für ein
Lebensgefühl soll das sein?
Was
also heißt stark?
„...eine
mächtige Leiblichkeit,
eine blühende, reiche, selbst überschäumende
Gesundheit, samt dem, was deren Erhaltung bedingt, Krieg, Abenteuer,
Jagd, Tanz, Kampfspiele und alles überhaupt, was starkes,
freies, frohgemutes Handeln in sich schließt.“
Seit wann dient
Krieg der Gesundheit? Oder sagen wir besser: bis wann. Kriege im
20ten Jahrhundert dienten niemandes Gesundheit. Der Kräftevergleich,
der heute noch in der Verbindung von Affektivität und Kampf am
ehesten der Gesundheit dient, heißt Sport. Hier hat allerdings
der Sieg etwas Attrappenhaftes, das auf Publikum angewiesen ist. Also
Fremdakklamation statt Selbstbejahung. Aber zumindest findet man
hier noch Siegeszuversicht und den selbstbejahenden Siegesrausch. Ein
erstes empirisches Element des Gefühls von Stärke.
Sodann
das Gedächtnis.
„Seine Feinde, seine Unfälle, seine Untaten selbst nicht
lange ernst nehmen können – das ist das Zeichen starker
voller Naturen, in denen ein Überschuß plastischer,
nachbildender, ausheilender, auch vergessenmachender Kraft
ist.“
Es macht keinen
Sinn, von Stärke zu sprechen, ohne einen Widerstand, an dem sie
sich als Stärke beweist. In einer Welt ohne Widerstände
gibt es keine Stärke. Stärke ist immer stärker als …
in diesem Sinne immer überwältigend. Aus Sicht der
überwältigten Kraft 'vergewaltigend'.
Vergewaltigung ist
von Nietzsche durchaus nicht nur als Metapher gemeint, sondern auch
als Tatbestand wie in StGB §177,178 oder §240. Sofern durch
die Aufrichtung von Moral in Gesellschaft ein Verbot das ungehemmte
Ausleben jegweder Kraft begrenzt, wird der Terminus 'Vergewaltigung'
zum kritischen Begriff, ein Festhalten von Selbstbejahung. Kraft
bleibt Kraft auch unter Verbotsbedingungen. Dann eben ganz
unmetaphorisch als Vergewaltigung.
„Von
der Stärke verlangen, daß sie sich nicht als Stärke
äußere, daß sie nicht ein Überwältigen-Wollen,
ein Niederwerfen-Wollen, ein Herrwerden-Wollen, ein Durst nach
Feinden und Widerständen und Triumphen sei, ist gerade so
widersinnig als von der Schwäche verlangen, daß sie sich
als Stärke äußere. Ein Quantum Kraft ist ein
ebensolches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar
nichts anderes als ebendieses Treiben, Wollen, Wirken selbst.“
Stärke
ist nicht verantwortlich. So wenig wie der Wolf, der das Lamm reißt.
Der Starke ist also kein Subjekt. Sie kann nicht zwischen Tun und
Lassen wählen. „»der
Täter« ist zum Tun bloß hinzugedichtet – das
Tun ist alles.“ Der
Starke hat kein Selbstbewusstsein, sondern Selbstvertrauen. Stärke
ist in diesem Sinne nicht selbstbewußt, sondern unbewusst,
nicht wissend, sondern vergessend.
Der
Grund, warum Nietzsche bis heute zu den Großen der Philosophie
gehört, besteht wesentlich darin, dass er den Menschen von
seiner Leiblichkeit her denkt. Bewusstsein
ist ein Symptom des Leibes.
Ein
»reines,
willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntnis«,
das
ist gefährliche
„Begriffs-Fabelei“. Stärke
ist aus Sicht Nietzsches nicht Gehalt von Subjektivität, sondern
von Leiblichkeit.
Stärke ist
Aktivität, ungehemmte affektive Spontaneität, Wollust in
der Selbstverausgabung, Grenzerfahrung und Grenzüberschreitung
am anderen. Das ist die Münze, mit der bei Nietzsche gemessen
wird. Können wir sie gelten lassen? Und was für ethische
Konsequenzen hätte es, wenn wir sie gelten lassen?
weiter ...
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