Freiheit und Zeugenschaft
Michael Seibel • Wenn die Freiheit wettet (Last Update: 13.03.2019)
Zurück zu Gott, der alles weiß. Diese Sicht ist offensichtlich ebenfalls auf Dauer angelegt. Wenn Gott weiß, dass die Menschen frei sind, dann sind sie wirklich frei. Das wäre ein Beweis der empirischen Freiheit des Menschen. Nur leider ist der Beweis selbst nicht empirisch. Man ist gezwungen, ohne weiteren Beleg zu glauben, dass er gilt. Üblicherweise nennt man jemanden, der um eine Tat weiß, einen Zeugen. Aber üblicherweise ist es unmöglich, Zeuge von etwas zu sein, das noch nicht geschehen ist. Gerade das ist Gott aber möglich.
Und genau das ist die Lösung, die Augustinus gegen den Einwand Ciceros findet. Er sagt einfach: Wenn bei Gott die Ordnung aller Ursachen feststeht, so folgt daraus nicht, dass wir Menschen keinen freien Willen haben und uns nicht frei entscheiden könnten. Unser Wille gehört einfach mit in die Ordnung der Ursachen, die Gott in sein Vorherwissen aufgenommen hat, weil eben auch der freie Wille eine wirkende Ursache ist, nämlich Ursache der menschlichen Handlungen. Und deshalb musste dem, der die Ursache aller Dinge voraus wusste, natürlich auch unter diesen Ursachen unser Wille bekannt sein, von dem er voraus wusste, dass er Ursache unserer Handlungen werden würde.
Die Philosophiegeschichte unterscheidet seit Aristoteles zwei logische Varianten, die sich auf die Aussage ›Wenn Gott etwas vorher weiß, wird dies notwendig geschehen‹ beziehen lassen, die Notwendigkeit de modo und die Notwendigkeit de re. Notwendig ist, dass wenn Gott weiß, dass etwas geschehen wird, es dann auch geschehen wird. Diese Aussage de modo ist logisch gesehen ein wahrer Satz. Die andere Form wäre: Gott weiß, dass etwas geschehen wird, genau deshalb wird es mit Notwendigkeit geschehen. Das ließe in der Tat keinen Platz für die menschliche Freiheit. Außerdem wäre die Aussage logisch nicht wahr, denn nach mittelalterlicher Ansicht weiß Gott auch im voraus, was zufällig geschieht. Dennoch... eine merkwürdige Vorstellung von Zeugenschaft.
Was die Zeugenschaft angeht, haben wir also zwei Denkfiguren zu vergleichen, die eine vom religiösen Typus, nach der solche vorausschauende Zeugenschaft möglich ist, und die andere der Wissenschaften, die sie strikt ausschließt. Aber ist die Trennung wirklich so strikt? Bereits Thales erstaunte die Zeitgenossen durch seine korrekte Vorhersage der Sonnenfinsternis vom 28. Mai 585, die er nach babylonischen Tafeln errechnet hatte. Muss man da nicht zugeben, dass Rechnen können eine ziemlich göttliche Fähigkeit ist? Offenbar ist es möglich, weit vor Eintreten eines Ereignisses so etwas wie dessen Zeuge zu sein, wenn man nur die Gesetze kennt. Von daher das frühe Vertrauen in Zahlenverhältnisse und der Glaube an eine überall an sich hoch geordnete Natur. Was würde einen Thales, der irgendwann alle Gesetze kennt, nach denen sich der Kosmos bewegt, im Hinblick auf sein Wissen eigentlich von Gott unterscheiden? Offenbar nicht viel. Nur schreibt die moderne Wissenschaftsgemeinde vor, den unendlich dornigen Weg der empirischen Forschung zu beschreiten, um an Daten zu kommen, ein Weg, auf dem Allwissen höchstwahrscheinlich unerreichbar ist. Um Wissenschaftler im Sinne der Moderne zu sein, muss man sich mit seinem eigenen Nichtwissen angefreundet haben. Das heißt jedoch nicht, dass die geforderte empirische Methode die letztlich mystische Grundvorstellung davon ändert, was Wissen überhaupt ist, nämlich Vorhersagefähigkeit in einer gläsernen Welt, dies eigenartig widersprüchliche Monstrum einer vorauswissenden Zeugenschaft.
Vorhersagen werden die Menschen zu allen Zeiten gemacht haben, als Jäger und Sammler, in bäuerlichen Gemeinschaften und allen Kulturstufen danach. Es ist kein großes Kunststück, als Bauer, der eine Gewitterfront auf sein Feld zukommen sieht, dezidierte Befürchtungen zu haben. Aber der Geist, der auf den Gottesgedanken gekommen ist, wollte immer schon hinter den Horizont schauen und nicht einfach das Naheliegende benennen. Und dies Bedürfnis hat sich geschichtlich sehr unterschiedliche Wege gesucht. Wenn Gott allwissend ist und die Menschen liebt, dann wird er alles Wichtige in der Offenbarung vermerkt haben. Man muss sie nur richtig lesen. Dann ist auch plausibel, warum man auf die These von Gottes Allwissenheit nicht verzichten kann. Es wäre nicht nur gotteslästerlich, sondern wer würde uns dann sagen, wie es hinter dem Horizont weitergeht, aus dem soeben das Gewitter, der Feind oder die Pest kommt.
Was, wenn das alles nicht in der Heiligen Schrift steht und auch nicht in Texten der Alchemie. Newton hat sich kaum mehr mit Beobachtungen und mathematischen Formulierungen aufgehalten als mit überlieferten Texten. Er war bekanntlich auch noch engagierter Alchemist. Er steht auf der Schwelle, an der es noch als ziemlich verrückt galt anzunehmen, man könne durch Naturbeobachtung zu wirklich neuem Wissen kommen, das nicht schon in den Schriften steht. Und in der Tat, es steht nicht darin. Man muss also, anders als die Wissenschaftler des Mittelalters, im ersten Schritt sein Nichtwissen akzeptieren. Aber am Wissensbegriff ändert das insofern nichts, als Wissen nach wie vor Vorhersagefähigkeit heißt. Ein moderner Fachwissenschaftler schaut nun allerdings sowenig hinter den Horizont wie der Bauer, der ein Gewitter erwartet. Nur ist sein Horizont bezogen auf sein Fach weiter als der des Nicht-Wissenschaftlers. Der Nicht-Wissenschaftler bekommt damit die Möglichkeit, hinter seinen persönlichen Horizont zu schauen, wenn er nur den richtigen Wissenschaftler fragt. Der Nicht-Wissenschaftler hat intersubjektiven Grund, dem Wissenschaftler zu glauben. Er folgt einfach einer kollektiven Empfehlung. Auf der Ebene des Glaubens ändert sich gegenüber religiösen Zeiten also weniger, als man denkt, früher hätte er Priester gefragt, um hinter den Horizont zu schauen, heute Wissenschaftler.
Freiheit wettet
Ein Stück Option steckt bereits in jeder alltäglichen Entscheidung für die Mittel, die man einsetzen möchte, um ein Ziel zu erreichen. Dabei muss man sich immer wieder deutlich machen, dass es so gut wie keine Mittel gibt, die das Produkt einsamer, individueller Arbeit sind, egal, ob es sich um Notung, das Schwert, eine Busfahrkarte oder ein Kohlekraftwerk handelt. Dennoch behält der Versuch, den Willen zu verwirklichen, immer auch den Charakter einer persönlichen Wette. Anstelle einer durch und durch imaginären Zeugenschaft steht eine Wette. Die Wette, die jeweils neu konkretisiert, wettet, dass der freie Wille sein Ziel, durch den Einsatz der Mittel, die er im einzelnen wählt, auch erreichen wird. In dieser entscheidenden Phase behält jedes Wissen etwas von einer Wette. Auch da, wo es ganz und gar nicht danach aussieht. Wer z.B. innerhalb einer Organisation erfolgreich arbeiten will, muss deren Organigramm, die ihn betreffenden Arbeitsabläufe und seine eigene Stellenbeschreibung kennen. Da kommt eine ganze Menge zusammen, das nach purem Wissen aussieht und nicht wie eine Wette. Man muss nicht wetten, was zu tun ist, sondern man muss es wissen. Und jemand, der eine Organisation beschreiben möchte, muss sie beschreiben, als sei sie wirklich eine Ordnung, die im alltäglichen Gewimmel der Akteure nicht durcheinanderkommt. Man muss also absehen von der Unordnung des Menschengewimmels und den persönlichen Freiheiten der Menschen. Und doch ist das nur die Theorie. Sobald die Arbeit losgeht, bleibt nichts übrig, als darauf zu wetten, dass die Dinge wie beschrieben laufen und dass der beschriebene Weg auch ein geeigneter Weg ist, um ans Ziel zu kommen. Erst am Ende, nach getaner Arbeit weicht der Wettcharkter dem Wissen darum, was wirklich gelaufen ist. Die Phase, in der Wissen und Wette untrennbar sind, wird gern übersehen. Es ist genau die Phase der Freiheit, in der es aufs Tun ankommt und darauf, was derjenige glaubt, der tätig wird. Es ist übrigens ganz witzig: die Phasen vorher und nachher sind die Phasen, in denen Wissen nicht auch die Bedeutung einer Wette hat, und gerade die in der Mitte, in der, wie man so sagt, Nägel mit Köpfen gemacht werden, ist die Phase der Wette, der Unbestimmtheit, des Lebens mit dem Nichtwissen. Inkompatibilisten werden genau das allerdings nicht zugestehen.
Woher weiß der Wille eigentlich, was er wollen wird? Und macht es ihn eventuell unfrei, das nicht zu wissen? Eins der großen Argumente gegen den freien Willen: Was hat man uns nicht permanent eingeredet, was wir wollen sollen. Wir sind da einem ständigen propagandistischen, werblichen, Hoffnungen und Ängste weckenden Beschuss ausgesetzt. Am Ende ist unser Wille nicht frei darin, etwas bestimmtes zu wollen.
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