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Öffentlichkeit als „gesellschaftsinterne Umwelt“

Michael Seibel •    (Last Update: 30.10.2018)

Niklas Luhmann vertrat seit den 80er Jahren im Hinblick auf den Begriff der Öffentlichkeit eine theoretische Gegenposition zu Habermas. Nach Luhmanns Ansicht geht es beim Begriff Öffentlichkeit nicht um Diskursideale wie bei Habermas. Massenmedien stellen täglich eine Vielzahl an Informationen bereit. Mediennutzung bewirkt, dass die Umwelt nur noch selten direkt beobachtet wird. Statt dessen wird die Umwelt über Informationen aus den Medien, von den täglichen Berichte, Reportagen, und Meldungen her verstanden. Öffentlichkeit ist für Luhmann im Kern ein Beobachtungssystem der Gesellschaft. Publizität ist dabei für ihn das zentralere Phänomen als der öffentliche Diskurs.

Öffentlichkeit muss nach Luhmann als „gesellschaftsinterne Umwelt“ betrachtet werden, die offen für andere gesellschaftliche Teilsysteme wie Recht, Wirtschaft, Politik oder Kultur ist, aus dem die Themen kommen, die in den Medien öffentlich gemacht werden. Die Öffentlichkeit dient der Selbstbeobachtung und der Herstellung einer Selbstbeschreibung von Gesellschaft mittels Veröffentlichung von Themen. Öffentlichkeit ist das Reflexionsmedium von Gesellschaft. Öffentlichkeit konstruiert Wirklichkeit auf der Grundlage der Beobachtung zweiter Ordnung.
Beobachtung zweiter Ordnung heißt:
Beobachter beobachten Beobachter11.

„Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien. (...) Wir haben es (...) mit einem Effekt der funktionalen Differenzierung der modernen Gesellschaft zu tun. (...) Mit dem Begriff der Massenmedien sollen im folgenden alle Einrichtungen der Gesellschaft erfaßt werden, die sich zur Verbreitung von Kommunikation technischer Mittel der Vervielfältigung bedienen. (...) Der Grundgedanke ist, daß erst die maschinelle Herstellung eines Produktes als Träger der Kommunikation - aber nicht schon Schrift als solche - zur Ausdifferenzierung eines besonderen Systems der Massenmedien geführt hat. Die Verbreitungstechnologie vertritt hier gleichsam das, was für die Ausdifferenzierung der Wirtschaft durch das Medium Geld geleistet wird: Sie konstituiert selber nur ein Medium, das Formenbildungen ermöglicht, die dann, anders als das Medium selbst, die kommunikativen Operationen bilden, die die Ausdifferenzierung und die operative Schließung des Systems ermöglichen. Entscheidend ist auf alle Fälle: daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sender und Empfängern stattfinden kann. (...) Durch die Unterbrechung des unmittelbaren Kontaktes sind einerseits hohe Freiheitsgrade der Kommunikation gesichert. Dadurch entsteht ein Überschuß an Kommunikationsmöglichkeiten, der nur noch systemintern durch Selbstorganisation und durch eigene Realitätskonstruktionen kontrolliert werden kann. (...) Die Realität der Massenmedien, ihre reale Realität könnte man sagen, besteht in ihren eigenen Operationen. Es wird gedruckt und gefunkt. Es wird gelesen. Sendungen werden empfangen. Zahllose Kommunikationen der Vorbereitung und des Nachher-darüber-Redens umranken dieses Geschehen. (...) Es macht daher guten Sinn, die reale Realität der Massenmedien als die in ihnen ablaufenden, sie durchlaufenden Kommunikationen anzusehen.

(...) Eine Kommunikation kommt nur zustande, wenn jemand sieht, hört, liest - und so weit versteht, daß eine weitere Kommunikation anschließen könnte. Das Mitteilungshandeln allein ist also noch keine Kommunikation. Dabei ist für Massenmedien (im Unterschied zur Interaktion unter Anwesenden) der aktuell mitwirkende Adressatenkreis schwer bestimmbar. In erheblichem Umfange muß daher eindeutige Präsenz durch Unterstellungen ersetzt werden. (...) Diese begrifflichen Konturierungen beziehen sich auf die real ablaufenden Operationen, mit denen das System sich selbst und seine Differenz zur Umwelt reproduziert. Man kann aber noch in einem zweiten Sinne von der Realität der Massenmedien sprechen, nämlich im Sinne dessen, was für sie oder durch sie für andere als Realität erscheint. In Kantischer Terminologie gesprochen: Die Massenmedien erzeugen eine transzendentale Illusion. (...) Realität ist denn auch nichts weiter als ein Indikator für erfolgreiche Konsistenzprüfungen im System. (...) Unsere Frage hat also jetzt die Form: Wie konstruieren Massenmedien Realität? (...) Der Doppelsinn von Realität als tatsächlich ablaufende, das heißt: beobachtbare Operation und als dadurch erzeugte Realität der Gesellschaft und ihrer Welt macht im übrigen deutlich, daß die Begriffe operative Schließung, Autonomie und Konstruktion kausale Einwirkungen von außen keineswegs ausschließen. Gerade wenn man davon auszugehen hat, daß es sich in jedem Falle um eine konstruierte Wirklichkeit handelt, kommt diese Eigenart der Produktion einer externen Einwirkung besonders entgegen. Das hat sich sehr gut an der erfolgreichen Militärzensur von Reportagen über den Golfkrieg gezeigt. Die Zensur mußte nur mediengerecht mitwirken, sie mußte die erwünschte Konstruktion mitvollziehen und unabhängige Informationen, die ohnehin kaum hätte gewonnen werden können, ausschließen. Da der Krieg von vornherein als Medienereignis mitinszeniert war und die Parallelaktion des Filmens oder Interpretierens von Daten zugleich militärischen und nachrichtenmäßigen Zwecken diente, wäre eine Entkoppelung ohnehin mit fast totalem Informationsausfall verbunden gewesen. Für eine Zensur war daher nicht viel mehr erforderlich, als: dem chronischen Informationsbedarf der Medien Rechnung zu tragen und sie für den nötigen Fortgang der Sendungen mit Neuigkeiten zu versorgen. So wurde vor allem die Militärmaschinerie im Einsatz gezeigt. Daß damit die Opfer-Seite des Krieges fast völlig ausgeblendet wurde, hat beträchtliche Kritik ausgelöst; aber doch wohl nur, weil dies der durch die Medien selbst aufgebauten Vorstellung, wie ein Krieg auszusehen hat, vollständig widersprach.“12



Anmerkungen:

11 Luhmann, Niklas: Die Beobachtung der Beobachter im politischen System: Zur Theorie der Öffentlichen Meinung, in: Wilke, Jürgen (Hrsg.): Öffentliche Meinung, Theorie, Methoden, Befunde, Beiträge zu Ehren von Elisabeth Noelle-Neumann, Freiburg 1992, S.77-86. S. 80

12 Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, Opladen 1996, S. 8 ff.


Foto: monika m. seibel www.photographie-web.de





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