Moderne Feudalrechte – Leitzinsen
Franz Rieder • Des Kaiser’s neue Kleider – Zentralbankzinsen (nicht lektorierter Rohentwurf) (Last Update: 20.05.2019)
Unabhängig von der Verteilungsfrage hat die EZB im Verlustfall ein Zugriffsrecht auf alle monetären Einkünfte. Diese Zugriffsrechte unterliegen keiner direkten, parlamentarischen bzw. demokratischen Kontrolle. Wir sprechen über den Leitzinsen als Vorläufer der seit 1999 gültigen Referenzzinssätze.
Der Leitzins war der Zinssatz, zu dem Banken bei der Zentralbank Geld leihen konnten, dies der eine Teil der Bestimmung des Leitzinses. Der andere war, dass die Zinssätze als ein Instrument der Zentralbanken gesehen wurden, um den Geldmarkt zu steuern; so jedenfalls bis vor einigen Jahren die allgemeine Überzeugung von Politik und Wissenschaft.
Da der Leitzins als das zentrale Element zur Steuerung der Geldpolitik aufgefasst wurde1, ging man auch zugleich davon aus, dass er als Aufpreis die Geldaufnahme und die Geldanlage der Geschäftsbanken bei der Zentralbank unmittelbar beeinflusst. Die Jahre nach der Finanzkrise haben aber deutlich gemacht, dass sich die Geldaufnahme bzw. die Geldnachfrage von der Entwicklung der Leitzinsen bzw. der Referenzzinsen weitgehend abgekoppelt haben.
Die
Annahme war unstrittig, dass, da sich Leitzinsen unmittelbar auf den
Interbankenhandel auswirken und auch der Geldmarkt von der
Leitzinspolitik der Zentralbanken betroffen wird. Auch in diesen
Kontext sahen wir eine Entkoppelung und zwar derart, dass im
Interbankenhandel andere als die Entwicklung der Leitzinsen
maßgeblich waren.
Selbst die expansive Geldpolitik der
Zentralbanken hat die alte Koppelung nicht wieder herstellen
können.
Die letzte der Annahmen von Politik und Wissenschaft,
dass nämlich die Leitzinspolitik sich auch auf die gesamte
Volkswirtschaft auswirkt, und zwar bei steigenden Leitzinsen
kontraktiv, bei sinkenden expansiv, scheint hinfällig geworden
zu sein.
Mit dem Jahr 1999 wurde die European Interbank Offered Rate (EURIBOR) als Referenzzinssatz für die Mitgliedsstaaten der EU eingeführt. Damit löste der EURIBOR zusammen mit dem EONIA nicht nur den FIBOR (Frankfurt Interbank Offered Rate) für Anlagen und Kredite am deutschen Geldmarkt, sondern auch alle anderen Zinssätze wie etwa den Diskont- und den Lombardsatz auf Währungen der jeweiligen Mitgliedsstaaten der Europäischen Währungsunion ab. Ebenfalls von Bedeutung ist der LIBOR (London Interbank Offered Rate), der für verschiedene Währungen ermittelt wird.
Im Fall des EURO
wird er als Euro-LIBOR bezeichnet und brachte es in der jüngeren
Vergangenheit zu einer unschönen, aber weiten Bekanntheit durch
den sog. Libor-Skandal. Der bezeichnet die im Jahr 2011 aufgedeckten
betrügerischen Manipulationen des Referenzzinssatzes LIBOR sowie
weiterer Zinssätze (EURIBOR, japanischer TIBOR) im
Interbankengeschäft.
Da die Referenzzinssätze großen
Einfluss auf eine Vielzahl von Finanzmarktgeschäften haben,
konnten sich durch deren Manipulation die beteiligten Bankinstitute
einige Vorteile verschaffen. Die lagen hauptsächlich darin, dass
Teilnehmer an der Manipulation ein geringeres Zinsänderungsrisiko
traf, Außenseiter dagegen ein zusätzliches, durch die
Manipulationen verursachtes Risiko.
Als selbst gesteuerte
Änderungen der Referenzzinssätze können diese
Manipulationen, ähnlich wie beim Insiderhandel mittels
Spekulationsgeschäften ausgenutzt werden.
Privatkredite
orientieren sich häufig am Referenzzinssatz zum Monatsanfang,
durch periodische Erhöhung des Referenzzinssatzes zum
Monatsanfang können Kreditnehmern somit überteuerte
Zinssätze vermittelt werden.
Wir erkennen also beim Libor-Skandal zuförderst Manipulationen zum schnellen und effektiven Eigennutz der Banken, was natürlich der Politik, die diese Referenzzinssätze lieber als Instrumente der Geldmarktpolitik verstanden wissen wollten, schwer aufstieß. Waren die sog. Währungshüter, also die Notenbanken der Staaten, zwar mit unzähligen Lippenbekenntnissen von der jeweiligen Regierungspolitik unabhängig, so schufen sie mit einem nicht zu durchauenden Geflecht von Geldmarktmaßnahmen, Tender in der Offenmarktpolitik genannt, eine funktionierende weil undurchschaubare Manipulation von Kreditzinsen und Sparzinsen, einen recht stabilen, überlang laufenden Versicherungsmarkt etc.
Man hätte durchaus von Italien schon früher lernen können, auf welchem Weg sich Referenzzinsen und „faule“ Bankkredite bedingen, eines großangelegten Libor-Skandals hätte es nicht bedurft. Nun aber haben wir den Fall, dass die Allianz zwischen Geldmarkt- und Inflationssteuerung der Notenbanken und ihrer an der Geldmarktstabilität und am Interbanken-Vertrauen orientieren Geschäftsbanken zerbrochen ist. Und zerbrochen ist auch die Allianz mit der Politik.
Geschäftsbanken machen im Zweifel, was ihnen nützt und tun damit nichts anderes, als alle Teilnehmer der Marktwirtschaft auch tun. Die in Deutschland noch verschiedenen gesetzlichen Bestimmungen verhindern bislang, dass auch hier sich wie etwa in Italien faule Kredite in Unsummen in die Bankbücher aufmachen, die dann im Falle der drohenden Pleite von EURO-Rettungsfonds refinanziert werden müssen.
Aber das Rad hat sich noch weiter gedreht. Und das auch noch in gegensätzlicher Richtung. International hat jede Zentralbank ihre individuellen Leitzinsmechanismen entwickelt. In England orientierte man sich nach dem Zweiten Weltkrieg an der „Minimum Lending Rate“ – auch genannt „base rate“ – und der „Repo Rate“ der Bank of England, in den USA an der „Prime rate“, zu dem in den USA Geschäftsbanken erstklassigen Großkunden höchster Bonität kurzfristige Kredite gewähren.
Diese Zinssätze hatten Indikatorfunktion für zukünftige Zinsentwicklungen und die nominalen Federal Funds Rates2 der Federal Reserve Bank waren die wichtigsten Regulierungsinstrumente, einmal um die US-Wirtschaft und zum anderen, aufgrund der Leitwährung des US-Dollars, auch auf die internationalen Finanzmärkte zu steuern. Auch ermöglichten sie, auf die Konsumtätigkeit der US-Konsumenten Einfluss auszuüben.
Allein bis hierin betrachtet, hatten die Zentralbankentscheidungen, insbesondere die der EZB und der FED schon lange nicht nur die Zinsentwicklung und damit die Inflations- bwz. Preisentwicklung im Auge. Schwer wiegende Auswirkungen im nationalen wie internationalen Wettbewerb lassen sich heute kaum mehr verbergen wie auch die erheblichen Rückwirkungen auf das private Investitions- bis hin auf des Konsumverhalten aufgrund der Auswirkungen auf die Finanzmärkte. Nur ein Beispiel soll die Dramatik der Lage anreißen, die Entwicklung des privaten Versicherungsmarktes, vor allem bei Lebensversicherungen – der aber auch im Rahmen von Gesellschafterabsicherungen bei GmbHs und anderen Unternehmensformen weit in die Privatfinanzierung und in die Kreditabsicherung bei geschäftsführenden Gesellschafter eingegriffen hat. Im gesamten Bereich der Pensionsverpflichtungen bleibt das niedrige Zinsniveau das bestimmende Thema.
Waren
Lebensversicherungen einst das Lieblingsprodukt für die zur
Rente bzw. Pension zusätzlich als zweites Standbein genutzte
private Alterversicherung, so ist aufgrund der Zinsentwicklung heute
eigentlich kaum mehr eins dieser Produkte an einen hinlänglich
vernünftigen Kunden mehr zu verkaufen. Von einer
Steuerungsfunktion kann bei dieser desaströsen Entwicklung keine
Rede mehr sein.
Und auch insgesamt wird die zahlenbasierte
Repräsentation der Zinsentwicklung und der realen Entwicklung
von Geldvermögen der privaten Haushalte immer schwieriger in
Beziehung zu bringen.
Erwa 2,25 Billionen Euro horten die
deutschen Sparer bar oder auf Konten und Sparbüchern, also dort,
wo es weder Zinsen gibt, noch das Vermögen gleich bleibt; im
Gegenteil, es schrumpft. Jahr für Jahr um etwa 75 Milliarden
Euro oder 1000 pro Bundesbürger. Dieser deutliche Wertverlust,
der übrigens in Summe knapp 40% des Gesamtvermögens
privater Haushalte von etwa 5,7 Billionen Euro erfasst, steht also im
krassen Widerspruch zur Annahme, dass der homo oeconomicus stets
intelligent zu seinem Nutzen oder Vorteil handelt. Hier sehen wir
ehen unvernünftige, selbstschädigendes Verhalten am Werk –
wir kommen darauf bald zurück.
Obwohl bei einer
Inflationsrate von ca. 1,8%, die deutlich höher ist als der
Sparzins für kurz- oder langfristig angelegtes Spargeld, der
zwischen 0,04% und 0,6% zur Zeit liegt, die privaten Vermögen
deutlich schrumpfen, erhöht es sich in der Summe doch. Dies
belegt hinlänglich, dass es bei allen Umfragen oder anderen
sozialwissenschaftlichen Verfahren nicht um einen Sachgehalt,sondern
um eine Struktur geht. Dem Sachgehalt gegenüber stehen diese
mathematischen Verfahren, so genau bzw. repräsentativ sie auch
sein mögen, indifferent gegenüber. Richten wir den Blick
auf Sachgehalte, können wir also nur „spekulieren“.
Warum also die Geldvermögen1wachsen und um wieviel, lässt
sich kaum vorhersagen.
Die Zentralbankpolitik hat noch andere Unwägbarkeiten im Portfolio. Etwa das Wechselkursrisiko der EZB, also der Kurs des Dollars gegenüber dem EURO. Dies allein aber wäre nicht das Kernproblem, sonder der Sachverhalt, dass sich zunehmend Wechselkursschwankungen von den darunter liegenden Wirtschaftsentwicklungen entkoppeln. Die Entkopplung von Währung und Wirtschaft ist natürlich der größte, anzunehmende Unfall, ist ja damit das Repräsentationsprinzip nicht mehr gültig und wo die grundlegenden Faktoren der Preisstabilität nur noch informelle Gültigkeit besitzen, sind auch die Maßnahmen der Zentralbanken mehr dem Zufall als einer einigermaßen glaubhaften Vorhersagbarkeit nahe.
Heute ist allen klar, die Notenbank in Europa hat ihre Steuerungsfunktion verloren, signalisiert aber den Märkten dafür, dass sie mit jeder Geschindigkeit der Schulden- und Preisentwicklung auf den nationalen Märkten mithalten wird. Sie kann also nur noch post festum ihre Geldpolitik begründen. Dass etwa die Zinsentwicklung und die Inflationsentwicklung in den letzten Jahre dieses Ergebnis hatten wie sie es hat, kann die EZB allein dadurch begründen, dass sie behautet, die Inflation hätte sich wahrscheinlich gang anders, also zum Nachteil entwickelt, hätte ihre Geldpolitik nicht so augesehen, wie gehabt. Bewiesen allerdings ist damit nichts.
Innerhalb der EZB gibt es monetaristische wie keynesianistische Auffassungen. Nach Keynes ist die Geldpolitik der EZB eine Antwort auf kurz- bzw. langfristig wirkende Schocks. Dazu gehören, was die Infaltions- also die Preisentwicklung angeht, die Öl- und Rohstoffpreise. Deren teilweise krassen Erhöhungen wie Senkungen kann die Geldpolitik durchaus „übersehen“, da sie bereits über einen langen Zeitraum statistisch betrachtet werden konnten und der „Schock“ mittlerweile nicht mehr als Sachverhalt, sondern als Teil einer Wahrscheinlichkeit repräsentabel geworden ist. Schwieriger wird es bei der Auslastung der Wirtschaft, die nicht nur in Produktionskapazitäten und Maschinenzeiten repräsentiert sind. Auch die Anzahl der erwerbsmäßig arbeitenden Menschen ist signifikant, aber nur, indem die Annahme, dass Menschen nicht zu geringeren Entgelten arbeiten, als möglich ist. Gehen immer mehr Menschen in Teilzeitjobs und zu den unterschiedlichsten Beweggründen, also zu anderen, die denen der maximalen Lohnsumme gleich- oder gar nachgeordnet sind, wird eine Berechnung der Inflation schon schwerer.
Wir haben
bereits darauf hingewiesen, dass natürlich auch die Schwäche
der Gewerkschaftsbewegung sich in Zurückhaltung bei
Tarifverhandlungen auswirken kann, dass also viel Menschen besonders
nach langen Phasen niedriger Inflation und anderen Faktoren durchaus
gleich bleibende bis sogar schwindene Lohneinkünfte akzeptieren,
vor allem in Kombination mit unterschiedlichen Arbeitszeitmodellen
u.a.
Der letzte Punkt bei dieser Betrachtung ist natürlich
die Entwicklung der Nominalzinsen selbst. Denn wenn der langfristige
Inflationstrend niedriger ausfällt, drückt das die
Nominalzinsen und dies führt die Geldpolitik dann an einen
Punkt, wo die Zinsen den Wert Null einnehmen. Dieser Punkt, den
Aktienmärkte z.B. stets euphorisch zu begrüßen
scheinen, markiert aber nicht nur die Politik des lockeren Geldes,
sondern zugleich auch ihre Ende. Bei Nominalzinsen von etwa Null
enden alle traditionellen bzw. konventionellen Mittel der
Geldpolitik. Die Notenbanken haben dann keine Mittel mehr, auf
Schocks zu reagieren, was bedeutet, dass Rezessionen länger
andauern können, Deflationsentwicklungen unsteuerbar wie etwa in
Japan über Jahrzehnte lang sich ausbreiten können und die
Notenbanken zu unkonventionellen Maßnahmen greifen muss.
Das
Inflationsziel von 2% in der Euro-Zone ist also weniger eine
marktorientierte als eine geldmarktpolitisch binneorientierte
Zielgröße der Notenbank selbst, um ihre
„Handlungsfähigkeit“ aufrecht zu erhalten. Diese
Handlungsfähigkeit führt sichtbar zunächst dazu, dass
die Geldpolitik der Notenbank die Vermögen der an den
internationalen Finanzmärkten versiert tätigen Menschen und
Institutionen wachsen, während Sparguthaben sinken. Vor allem,
wenn die Notenbanken auch noch Anleihen im großen Stil kaufen,
profitieren die Aktienmärkte durch steigende Kurse – wie
zu sehen seit der Finanzkrise – auf Höchstandsniveaus.
Des Kaiser’s neue Kleider – Zentralbankzinsen
Oft
werden die Zentralbankzinsen auch synonym mit Leitzinsen benutzt. Im
Bereich der EZB entfaltet die Veränderung der Leitzinsen mehr
als nur Signalwirkung auf die Volkswirtschaften der
EU-Mitgliedsstaaten.
Nach der reinen Lehre verteuert eine Erhöhung
des Leitzinses die Liquiditätsbeschaffung der Banken, so dass
sie gezwungen sind, diese Verteuerung an ihre Bankkunden weiter zu
geben, wollen sie keine Gewinneinbußen hinnehmen. In den
letzten Jahren haben wir beobachten können, dass diese „Formel“
eben so wenig mehr greift, wie umgekehrt, dass bei einer
Leitzinssenkung die Geldaufnahme der Geschäftsbanken erleichtert
wird, wodurch ihnen eine Weitergabe von günstigeren Konditionen
der Geldbeschaffung und Refinanzierung von Unternehmen durch ihre
Bankkunden ermöglicht wird.
Auf die Preisentwicklung angewandt, sollte der Leitzins indirekt auch die Preisentwicklung beeinflussen, weil niedrige Leitzinsen eine Inflationsgefahr in sich bergen und umgekehrt. Aber wo ist diese „Formel“ geblieben? Hat sie überhaupt noch einen „Fitzen“ an Sachgehalt? Die Geldausgabe der EZB nebst den Anleihekäufen geht in die Billionen, der Leitzins liegt seit Jahren bei Null und die Inflationsrate in der EURO-Zone stieg aufgrund dieser Maßnahmen keinen Deut. Und wenn sie jetzt ein wenig voran kommt, dann sind erhebliche Zweifel anzumelden, ob dies ursächlich mit der EZB zusammenhängt.
Der Leitzins beeinflusst auch die Geldschöpfung der Kreditinstitute, indem eine Leitzinserhöhung die Geldschöpfungsmöglichkeiten der Institute einschränkt3 und umgekehrt. Die Geldschöpfungsmöglichkeiten der Banken wirken sich auf die Geldmenge aus. Will die Zentralbank die Geldmenge einschränken, so kann sie das über eine Erhöhung der Leitzinsen indirekt bewirken. Eine direkte Maßnahme zur Reduzierung der Geldmenge wäre die Erhöhung der Mindestreserven. Die Steuerung der Geldmenge über den Leitzins ist ein entscheidender Faktor für die Entwicklung des Preisniveaus4.
Leitzinsveränderungen
bewirken aber nicht nur die Geldschöpfung bzw. das
Geldmengenwachstum, sie haben zudem auch eine Veränderung des
Außenwerts der Währung zur Folge.
Leitzinserhöhungen
führen zu einem Anstieg des Wechselkurses der betroffenen
Währung. Das kann sich negativ auf den Export ausüben, da
die Exporte sich schnell verteuern können, gleichzeitig würden
sich die Importe verbilligen. In der Summe verschlechtern sich also
die Terms of Trade5.
Leitzins und Wechselkurs stehen also in einem reziproken Verhältnis zueinander, da eine harte Währung einen niedrigen Leitzins zulässt. Folglich spiegeln sich im Leitzins auch die Erwartungen hinsichtlich der Entwicklung von Wechselkursen und Inflation wieder. Eine Relationn zwischen der zu erwartenden Zahlungsbilanz eines Staates und der wahrscheinlichen Inflationsrate wird bis heute noch als die wichtigste Grundlage bei der Festlegung des Leitzinses angesehen.
Seide – Sack und Asche
Wir erinnern uns an eine Reihe von unkonventionellen Maßnahmen der EZB im Rahmen der Bewältigung der Finanzkrise. Auf den Ausbruch der Finanzkrise im Sommer 2007 hat die EZB neben einer Senkung der Leitzinsen auf 1% im ersten Jahr der Krise zur Liquiditätsversorgung des Finanzsystems auf eine ganze Reihe unkonventioneller Maßnahmen zurückgegriffen. Die reichten von Swap-Operationen in Devisen zur Bereitstellung von Fremdwährungsliquidität über die Ausweitung der refinanzierungsfähigen Sicherheiten bis zur unlimitierten Zuteilung von Liquidität zum jeweiligen Hauptrefinanzierungssatz im Rahmen des Tenders6. Mit der Ankündigung des Erwerbs von Pfandbriefen im Ausmaß von 60 Mrd.€ folgte die EZB der Praxis der US-amerikanischen Zentralbank (Fed), die schon seit Längerem bestimmte Finanzmarktsegmente direkt mit Liquidität unterstützte, was zu einer Verschiebung von Wettbewerbsbedingungen der Volkswirtschaften der USA und der Euro-Zone mitunter geführt hat.
Die meisten dieser Maßnahmen zielten einerseits darauf ab, den im Zuge von Finanzkrisen häufig auftretenden Deflationsrisiken wirksam vorzubeugen7. Die konventionelle Geldpolitik als Teil der keynesianischen Nachfragesteuerung wird, wie wir soeben sahen, unwirksam, sobald sie die Nullzinsuntergrenze erreicht hat, die nicht unterschritten werden kann. So geht die allgemeine Lehrmeinung natürlich davon aus, dass auf der Zinsebene keine Deflation stattfinden kann, die sich ergeben würde, wenn negative Nominalzinsen erreicht würden. Denn unsinnig erschien, Gläubigern für das Verleihen von Geld eine Gebühr zahlen zu lassen. Dies galt also aufgrund des Umstands, dass die Geldhaltung eine Rendite von Null hat, als ausgeschlossen. Kein Sparer würde einen negativen Zins akzeptieren, sondern eher Bargeld horten, in das Finanztitel ja jederzeit konvertiert werden können. Aber genbau das ist geschehen. Zwar nicht auf den privaten Geldmärkten, aber bei den Geschäftsbanken.
So stand die EZB vor der Situation, dass bereits kurz nach Ausbruch der Finanzkrise ein angemessener Leitzinssatz gar nicht mehr nach allen Kapiteln der Vernunft angebbar war. Hätte sie die Taylor-Regel8 angewendet, hätte sich für die gesamte EU-Zone eben ein solcher nominell negativer Zinsatz ergeben, aufgrund der außerordentlich hohen negativen Produktionslücke9. So versuchte die EZB durch immer neue, unkonventionelle Maßnahmen, die Deflationsgefahr zu bannen und kam dabei in die Situation, dann doch einen Negativzins für vor allem die sog. overnight credits der Geschäftsbanken zu erheben.
So wie die Notenbank schwer nur die genaue Größe der Produktionslücke bestimmen kann, allenfalls kann dieser geschätzt werden mit einigen größeren Unschärfen, so ist ihr die Taylor-Regel auch schnell zum Hindernis geworden. Ist die Taylor-Regel – eine Weiterentwicklung des IS-LM-Modells – eine Art Handlungsanleitung für Notenbanken, den Zielwert für ihr wichtigstes geldpolitisches Instrument, den kurzfristigen Zinssatz (Federal Funds Rate) auf dem Geldmarkt, festzulegen, ist sie gleichzeitig auch Opfer deren Schwächen. Denn nähert sich der nach Taylor berechnete Leitzinssatz seiner Untergrenze Null für den nominellen Zinssatz, gelingt es der Taylor-Regel nicht mehr, die Bindung des Systems an die geldpolitischen Ziele zu gewährleisten. Es bleiben also keine anderen als unkonventionelle Maßnahmen mehr, um das Deflationsrisiko gering zu halten.
Und dabei ist die Anwendung der Regel in Europa in gewisser Hinsicht leichter als in den USA. Im Gegensatz zur Europäischen Zentralbank strebt die amerikanische Zentralbank neben dem Ziel stabiler Preise auch einen hohen Beschäftigungsstand und moderate, langfristige Zinsen an. Wird also wie in Europa die Tylor-Regel angewandt, dann ist ihre hohe Sensitivität gegenüber bestimmten Variablen und Koeffizienten nicht unproblematisch. Denn die Bestimmung der Koeffizienten mit denen die Produktions- und Inflationslücke gewichtet werden, ist strittig. Legt eine Zentralbank Wert auf eine strikte Inflationsbekämpfung wie etwa die EZB, so wird sie die Inflationslücke höher bewerten als die Produktionslücke. Die Festlegung einer angemessenen Gewichtung lässt sich nicht korrekt bestimmen, da sie von mehreren Faktoren abhängt, wie z.B. der aktuellen „Inflationskultur“ einer Gesellschaft, oder der Arbeitsmarktkonstellation. Beide unterscheiden sich deutlich zwischen den USA und Europa.
Folglich müssen diese Größen geschätzt werden, was sehr riskant sein kann. Es wäre bspw. auch möglich, dass die Gewichtung von der Politik festgelegt werden muss, was aber auch keine wirklich sinnvolle Alternative sein kann.
Im Unterschied
zur konventionellen Geldpolitik, bei der die zeitlich begrenzte
Versorgung von Banken mit geliehenem Notenbankgeld im Vordergrund
steht und diese Liquiditätslücke mit Wertpapiere als
Sicherheit hinterlegt ist, erwerben Notenbanken nun Wertpapiere auf
direktem Weg5, um spezifische, etwa von Illiquidität betroffene
Finanzmarktsegmente zu unterstützen.
Diese, euphemistisch
bezeichnete Strategie eines „credit easing“ zielt primär
darauf ab, Liquidität zu erhöhen und Risikoprämien zu
senken. Aber das heißt konkret, das Notenbanken ganzen
Finanzmarktsegmenten als „weißer Retter“
beispringen, ohne den eine Pleite wohl kaum abzuwenden wäre. Und
das es auch nicht darum geht, diese Segmente nur zu retten, sondern
eine Ausbreitung der Finanzkrise auf fast alle Wirtschaftssegmente zu
verhindern, ist es auch nicht mehr angebracht, von „Schocks“
zu sprechen.
So lösten damals auch durch die Herabstufungen
hypothekenbesicherter Wertpapiere sowie strukturierter Produkte durch
die Ratingagenturen über die Schattenbanken genannten
Zweckgesellschaften einen Flächenbrand an Liquiditätsmangel
aus, der durch die enormen Kredithebel rasant ins schier endlose
gesteigert wurde. Der Verfall von Vermögenswerten traf somit
auch besonders jene Institute, die über keine eigene
Einlagenbasis verfügten wie die großen Investmentbanken
und Zweckgesellschaften.
Einige Banken hatten sich, wie sich herausstellte, benommen wie Elefanten im Prozellanlanden in drogengepushter Feierlaune. Nur war die Party nicht gleich vorbei, als die Eltern zu Hause endlich wieder eintrafen. Verhindern konnten die Notenbanken die Feierlaune nicht. Nun standen sie vor den Folgen der Dionysien. Die dramatische Zuspitzung der Krise im Herbst 2008 hatte beinahe alle Sektoren und Regionen des Wirtschaftsgeschehens mit deutlich negativen Auswirkungen getroffen.Und diese negativen Auswirkungen des Wirtschaftsgeschehens führten nun ihrerseits wiederum zu negativen Rückkoppelungen auf die Bankbilanzen und die Finanzmärkte. Die krisenbedingte Verschlechterung des Finanzierungsumfelds hat die konjunkturelle Situation insgesamt spürbar verschärft.
In so einer Situation ist mit reiner Geldmaktpolitik kaum etwas zu bewegen. Unkonventionelle Maßnahmen mussten ergriffen werden. Und hierbei stehen ganz bestimmten Mitteln ganz bestimmt Problemfelder gegenüber.
Anmerkungen:
1 Beim
Geldvermögen werden zusammenfasst: Bargeld, Bankeinlagen,
Wertpapiere, sowie Ansprüchen an Versicherungen - keine
Immobilien.
2 Den
Ausdruck: Zinsen muss man unterscheiden in
1. In der
Geldpolitik/-theorie: Geldzins. Geldzins wird in den monetären
Zinstheorien als Erklärung für die Existenz des Zinses
angeführt. Hier gibt es verschiedene Ansätze, das Wesen
des Zinses sowie seine jeweilige Höhe zu erklären. Diesen
Versuchen vorangestellt ist die ethische Frage nach der
Rechtfertigung des Zinses (z.B. bei Aristoteles, Thomas von Aquin,
Marx).
Kategorien:
(1) Reale Zinstheorie: Auf der
Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals sowie der Zeitpräferenz
bei der Wahl zwischen Gegenwarts- und Zukunftsgütern basierende
Zinserklärungen.
(2) Monetäre Zinstheorie: Ansätze,
bei denen der Zins als Entschädigung für die Aufgabe von
Liquidität im Vordergrund steht.
2. Im Kreditwesen: Zins für
den Kredit in Prozent auf den Nennwert.
Hier im Unterschied zum
Effektivzins.
Unter einem Nominalzins versteht man den Zins, der
jährlich für ein Darlehen fällig wird. Die monatlich
zu bezahlende Kreditrate ergibt sich aus einer festgesetzten Tilgung
und dem Nominalzins. Kreditinstitute sind gesetzlich dazu
verpflichtet, zusätzlich zum Nominalzins den Effektivzins
anzugeben, der auch die Bearbeitungsgebühren enthält.
3.
Bei Effekten: Zins für eine Anleihe in Prozent auf den Nennwert
(Kupon).
3 Wolfgang Cezanne, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, 2005, S. 416.
4 Lothar Wildmann, Makroökonomie, Geld und Währung, 2007, S. 128.
5 TOT:
Tauschbedingungen im internationalen Handel, gegeben durch die
relativen Preise der handelbaren Güter. Die Terms of Trade
werden im zweidimensionalen Fall meist als das Verhältnis
zwischen dem Preis des exportierten und dem Preis des importierten
Gutes angegeben. Diese Größe gibt an, wie viele
Mengeneinheiten des Importgutes die heimische Ökonomik für
eine Einheit des Exportgutes tauschen kann (reales
Austauschverhältnis). Eine Verbesserung der Terms of Trade
bedeutet, dass das Inland mehr Importgüter pro Einheit des
Exportgutes erhält als vorher. Es führt zu einer
Verbesserung des Außenbeitrags bzw. des Saldos der
Leistungsbilanz.
Im mehrdimensionalen Fall werden Export- und
Importpreisindizes einander gegenübergestellt. Die Terms of
Trade werden durch Angebot und Nachfrage auf den Weltmärkten
bestimmt. Maßnahmen, die die Importnachfrage oder das
Exportangebot eines Landes verringern, führen zu einer
Verbesserung der Terms of Trade, wenn Angebot und Nachfrage dieses
Landes gemessen am Volumen des Weltmarktes von Bedeutung sind
(Gabler).
6 Zinstender - "Tender" = Ausschreibung
7 Gerlach, Stefan (2009) : The risk of deflation, IMFS Working Paper Series, No. 21, ebook.pdf
8 Die Taylor-Regel ist eine geldpolitische Regel zur Setzung des Leitzinses durch eine Zentralbank. Benannt wurde sie nach ihrem Erfinder, dem US-Ökonomen John B. Taylor.
9 Der
Begriff Produktionslücke (auch Outputlücke, Output gap)
bezeichnet die Abweichung des realisierten Bruttoinlandsprodukts
(BIP) vom Produktionspotenzial (PP). Wenn diese Lücke
verkleinert wird, werden wirtschaftliche Ressourcen effizient im
Rahmen ihrer Möglichkeiten (volle Kapazität)
verwendet.
Bernanke, B.: The Crisis and the
Policy Response, Stamp Lecture, London School of Economics, 2009
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