Die vier Ursachen nach Aristoteles
Franz Rieder • (Last Update: 19.11.2019)
Dieses Schema der vier Ursachen-Fragen gilt nach Aristoteles für
alle Kunst, soll in Absehung von jeglicher Veränderung angewandt
werden können. Zur Formursache (Idee) des Kunstwerks liest man:
„Was nun das Werden durch die Kunst betrifft, so findet
dieses bei den Dingen statt, deren Idee in der Seele vorhanden
ist.“i.
Der Unterschied zwischen Platon und Aristoteles scheint minimal, hat
der Künstler bei beiden doch die Idee und die Form bzw. den Plan
der Verwirklichung in seinen Vorstellungen. Allein, was bei Platon
noch Idee ist und aus einem transzendenten Bereich des Denkens kommt
und nie ganz „geschaut“ werden kann, wandelt sich bei
Aristoteles zum Begriff und wird so voll und ganz dem Denken
zugänglich. Das „Geheimnis“ der Idee ist gelüftet,
ist nun eine Sache der Rationalität. Die aristotelische
Formursache kennt keinen „Furor“ mehr, kein „Jenseits“
von Ideen, und im Vorgriff auf späteres weist sie auch nicht an
einen Ort des Unbewussten als Sphäre kreativer Energien, noch
gerinnen die Artefakte aus göttlicher Inspiration. Alles
geschieht diesseits im Seienden, in klaren Vorstellungen, Konzepten
und Begriffen. Und nur so hat auch der Betrachter die Möglichkeit,
ein Kunstwerk zu erkennen. „Was entsteht, entsteht bald
durch Gestaltwandel, z. B. eine Bronzestatue; bald durch Hinzufügen
von Stoff, z. B. alles was wächst; bald durch Wegnahme von
Stoff, z. B. eine aus dem Stein gehauene Hermessäule; bald durch
Verbindung mit anderen Stoffen, z. B. beim Hausbau; bald durch
qualitative Änderung, z. B. wenn der Werkstoff sich selbst
ändert.“ii.
Dieser
Kerngedanke bezüglich der stofflichen Ursachen eines Kunstwerkes
steht, verwunderlich, in der Physik, gehört damit also in die
epistéme theoretiké. So klar formuliert hier auch die
noch heute geltenden Unterscheidungen zwischen Plastik und Skulptur
sowie Installation nachzulesen sind und der Zusammenhang von Ideen
und Stofflichkeit in einen Zusammenhang gebracht sind, so wenig sagt
Aristoteles aus über einen bestimmten Zusammenhang zwischen
bestimmten Ideen und der Realisierung in einer bestimmten
Stofflichkeit. Und bleiben wir weiter in seinem Denken und seiner
Sprache, dann stellen wir fest, dass Aristoteles an dieser Stelle
einem recht einfachen Abbildungsmodell folgt, das er auch auf die
Sprache als solches und die Hermeneutik anwendet: „Die
Sprache ist Zeichen und Gleichnis für die seelischen Vorgänge,
die Schrift wieder für die Sprache. Und wie nicht alle dieselben
Schriftzeichen haben, bringen sie auch nicht dieselben Laute hervor.
Die seelischen Vorgänge jedoch, die sie eigentlich bedeuten
sollen, sind bei allen die gleichen, und auch die Dinge, die jene
Vorgänge nachbilden, sind die gleichen.“iii
Zur aristotelischen Hermeneutik werden wir zwangsweise bald kommen, aber folgen wir noch ein wenig den Ausführungen zur Kunst und den aristotelischen Wirkursachen. Hier äußert sich Aristoteles recht klar: „Kunst und Fertigkeit, etwas mit bewusster und richtiger Überlegung hervorzubringen, sind ein und dasselbe. Alle Kunst hat es mit dem Werdenden, mit dem künstlerischen Ausführen und mit der Betrachtung, wie etwas entsteht, was sowohl sein als auch nicht sein kann und deren Quelle in den Machenden und nicht in dem Gemachten liegt, zu tun. Denn die Kunst hat es weder mit den Dingen zu tun, die von der Notwendigkeit her sind oder werden, noch mit solchen, die von Natur aus sind oder werden.“iv Hinterfragt man aber diese Stelle, dann stößt man schnell in dunkle Bereiche des Denkens vor. Etwas mit bewusster und richtiger Überlegung zu tun, ist leicht zu verstehen, aber was unterscheidet dann den Anbau von Tomaten von der Schaffung der Mona Lisa? Hat Kunst es mit dem Werdenden zu tun? Nach Platon vielleicht noch ein wenig, als da ja noch ein Reich der Transzendenz existierte und das Kunstwerk den zeitlichen Status der Ideen gewissermaßen verkörperte. In einer Welt der Kategorien ist das Werden schon exterminiert. Es ist allenfalls ein Momentum zwischen Sein und Nichts, der weitesten und gleichzeitig einfachsten, naheliegendsten aller Vorstellungen von Gegensätzen, wie wir dies ja heute als Inbegriff und logisches Grundmuster der Digitalisierung kennen: als binären Code.
Wenn die Dichtkunst etwa von Homer in der Odyssee die Unsterblichkeit der Götter und die damit verbundenen Glücksvorstellungen der Menschen zur Vorstellung und auf der Bühne zum Gesamtkunstwerk erhebt, dann keimt die Frage, wie das in der Malerei nach Aristoteles geschehen soll. Dem folgt natürlich sofort die nächste Frage: Gelten diese Ausführungen bei allen Künsten? Dem Theater, Dichtung, Tanz, Musik, Plastik und Bildhauerei? So wenig die Idee der Unsterblichkeit sich in ein nebulöses Werden zwischen Sein und Nichts packen lässt, so wenig gelten die aristotelischen Bestimmungen der Kunst allgemein über alle Kunstgenres. Die strikte Trennung des Werkes als Artefakt von der Natur hat sicherlich der Kunst und dem Künstler einen Freiraum geschaffen, als ihr Schaffen selbst nicht mehr gebunden ist an die Natur und ihren Gebilden. Aber ist der Künstler wirklich die Wirkursache? Die Frage spitzt sich sogar noch erheblich zu, wenn man bedenkt, dass alle vier Ursachen – auf die vierte kommen wir sogleich – eigentlich keinen Unterschied machen und allenfalls die Wirkursache die Qualität einer Ursache trägt. Alle zusammen sind aber lediglich Erklärungs- bzw. Betrachtungsweisen (keine Kausalbeziehungen), warum ein vom Menschen geschaffener Gegenstand, auch ein Kunstwerk, in einer bestimmten Eigenart existiert.
Das allerdings ist bisher zu wenig, um Kunst zu „erklären“.
Deshalb braucht es noch eine vierte Ursache, die causa finalis oder
Zweckursache, die angibt, weswegen oder zu welchem Ziel etwas
geschaffen worden ist. Schauen wir nun hierhin, sind wir weder klüger
noch ist Kunst nun endgültig vom Handwerk etc. differenziert.
Außer in dem Fall – der übrigens heute als
institutionelle Kunsttheorie imponiert – dass „jemand“
institutionell wichtig im Kunstbetrieb etwas als Kunst erklärt
und dann ist es eben Kunst. Mitnichten findet sich hier auch nur
annähernd eine Bestimmung von Kunst, wenn gleich dies einige der
kunstphilosophischen Autoren gerne sehen möchten. „Überhaupt
ist es so, daß die Kunst vollendet, was die Natur nicht zu
vollenden vermag, oder daß sie nachahmt.“v.
Weder
ist der Bau eines Flugzeuges Kunst, obwohl viel der Nachahmung von
Natur in ihm steckt. Und was Natur nicht zu vollenden vermag, ist
generell und schlechthin eine Bestimmung der menschlichen Arbeit.
Bleibt noch ein ominöses Kunst-Ideal, dem der Künstler
folgt, um beim Rezipienten eine (gewünschte) Wirkung
hervorzurufen. Da der Künstler aber nicht der Erfinder des
Ideals ist, käme er hier auch nicht als Wirkursache in Frage.
Und das Ideal selbst, das Aristoteles fast schon in Worten von
Sokrates beschreibt, als es um die Idealisierung von Natur geht: „Von
den nicht schönen Menschen unterscheiden sich, wie man sagt, die
schönen, und das mit Kunst Gemalte unterscheidet sich von der
Wirklichkeit durch das Nämliche, daß bei ihm das hier und
dort zerstreut Vorhandene in eines verbunden ist, da der eine, wenn
man sie getrennt betrachtet, ein schönes Auge, der andere einen
anderen Körperteil schöner haben kann als auf dem Bild“vi,
ist, was Nietzsche den zerstückelten Leib des Sokrates genannt
hat:
„Ich sehe und sah Schlimmeres und mancherlei so
Abscheuliches, dass ich nicht von Jeglichem reden und von Einigem
nicht einmal schweigen möchte: nämlich Menschen, denen es
an Allem fehlt, ausser dass sie Eins zuviel haben – Menschen,
welche Nichts weiter sind als ein grosses Auge, oder ein grosses Maul
oder ein grosser Bauch oder irgend etwas Grosses, – umgekehrte
Krüppel heisse ich Solche“.
„Und als ich aus meiner Einsamkeit kam und zum ersten Male über diese Brücke gieng: da traute ich meinen Augen nicht und sah hin, und wieder hin, und sagte endlich: »das ist ein Ohr! Ein Ohr, so gross wie ein Mensch!« Ich sah noch besser hin: und wirklich, unter dem Ohre bewegte sich noch Etwas, das zum Erbarmen klein und ärmlich und schmächtig war. Und wahrhaftig, das ungeheure Ohr sass auf einem kleinen dünnen Stiele, – der Stiel aber war ein Mensch! Wer ein Glas vor das Auge nahm, konnte sogar noch ein kleines neidisches Gesichtchen erkennen; auch, dass ein gedunsenes Seelchen am Stiele baumelte. Das Volk sagte mir aber, das grosse Ohr sei nicht nur ein Mensch, sondern ein grosser Mensch, ein Genie. Aber ich glaubte dem Volke niemals, wenn es von grossen Menschen redete – und behielt meinen Glauben bei, dass es ein umgekehrter Krüppel sei, der an Allem zu wenig und an Einem zu viel habe.“ Nietzsche hält im Rekurs auf Anselm Feuerbach gegen das Gesamtkunstwerk des antiken, griechischen Theaters diese „neue“ Betrachtung von Kunst, die ein Kunstideal konstruiert, das aus lauter zerstückelten Menschen z. B. besteht. Der Künstler nimmt dann von dem einen das, von einem anderen jenes, sagen wir ein schönes Auge, ein schönes Ohr etc. und setzt es zusammen zum Ideal des schönen Antlitz: „…wir sind gleichsam durch die absoluten Künste in Stücke zerrissen und genießen nun auch als Stücke, bald als Ohrenmenschen, bald als Augenmenschen usw.“, und weiter: „Sicher ist, daß wir einem solchen Kunstwerke gegenüber erst lernen müßten, wie man als ganzer Mensch zu genießen habe: während es zu befürchten ist, daß man, auch hingestellt vor ein derartiges Werk, es sich in lauter Stücke zerlegen würde, um es sich anzueignen.“vii Und was wird nun aus Picasso?
Nietzsches existenzialistischer Begriff des „Leibes“ wird uns in einem anderen Zusammenhang wieder begegnen, wenn wir uns mit der Frage nach dem Heidegger‘schen in-der-Welt-sein und der Endlichkeit des menschlichen Daseins beschäftigen. Dass sich der ein oder andere bei Nietzsches Beschreibungen an die Malerei von Picasso erinnern mag, scheint beileibe nicht zufällig und abwegig, wie die Frage, was aus solch einer Kunst zu ‚lernen‘ ist?
Anmerkungen:
i Aristoteles, Met. 1032 b
ii Aristoteles, Physik 190 b 5
iii Aristoteles, Hermeneutik 16 a
iv Aristoteles, Nikomachische Ethik 1140 a 9
v Aristoteles, Physik 199 a 15
vi Aristoteles, Physik 1281 b 10
vii Nietzsche, Das griechische Musikdrama in Nachgelassene Schriften, Kritische Studienausgabe, München Bd. 1, 518f.
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