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Lebendig oder tot?
Die Seele

Michael Seibel • Wie das Gehirn Klavierspielen lernt   (Last Update: 08.01.2015)

Protokoll vom 17.12.2014

Ich möchte unsere Einführung zum Begriff der Seele etwas vertiefen.

Wir sagten: ›Seele‹, die griechische Übersetzung ist psyche, die lateinische anima, ist bei den alten Griechen der Begriff für das, was einen lebendigen Organismus von einem Leichnam unterscheidet.

Man dachte, die Seele sei der Träger von Lebensvermögen wie Wachstum, Wahrnehmung, des Fühlens und Begehrens, des Denkens und Wollens und kam von alters her zu ganz unterschiedlichen Positionen in der Frage, ob die Seele sterblich ist oder nicht. Und auch die Frage, wie man sich die konkrete Verbindung von Leib und Seele vorzustellen habe, war immer strittig. Ist die Seele, die Psyche nur ein Epiphänomen des Leiblichen oder ist sie im Gegenteil etwas Immaterielles, was das materielle Leben allererst bewirkt?

Wie das im Einzelnen auch gesehen wurde: über das Leib-Seele-Problem haben sich bereits die Vorsokratiker Gedanken gemacht. Materialisten waren dabei wie Leukipp oder Demokrit. Für sie war die Seele etwas besonders fein strukturiert Körperliches. Daraus folgt die Endlichkeit und Sterblichkeit der Seele.

Platon ist hingegen Dualist. Für ihn ist die Seele etwas Nichtkörperliches. Ihr gegenüber steht das Materielle in seiner Vielfalt. Die Seele ist dasjenige, was Einheit und Leben in die Materie bringt. Weil die Seele das Prinzip der Einheit ist, sollte man nach seiner Meinung die Seele auf keinen Fall mit sich selbst uneins machen und mit Zwietracht belasten. Wer also wissentlich Unrecht tue, zerstöre seine unsterbliche Seele, dies auch ohne besondere göttliche Gebote. Für Platon ist die Seele unsterblich, da sie das Prinzip des Lebens ist. Würde das Prinzip mit dem konkreten Leben sterben, wie sollte dann neues Leben möglich sein? Es müsste dann ja doch allein aus der Materie hervorgehen, und das eben hält Platon für nicht möglich.

Die Unsterblichkeit der Seele bei Platon ist also nicht gegeben wegen ihrer Gottesebenbildlichkeit wie im Christentum oder aus anderen religiösen Motiven, sondern weil er dem Gedanken gerecht werden will, dass das Leben etwas absolut irreduzibles auf tote Materie ist.

(Gibt es Gründe, warum wir auch heute noch diese Irreduzibilität behaupten müssten?)

Einerseits denkt Platon die Seele als einfaches, nicht zusammengesetztes Wesen. Andererseits als Träger heterogener, einander widerstreitender Vermögen wie des Begehrens, des Streites und des Denkens. Allein die Einheit der Seele garantiert die Einheit des Menschen als Person. Das vermag nur die Seele und nicht der Körper und deswegen zerstört sich selbst, wer schlecht handelt, weil er eben die Seele in Widerstreit mit sich selbst bringt. Und weil der Leib keine Rolle bei Platons Erklärung der Einheit der Person spielt, nimmt Platon die vollständige Unabhängigkeit der Seele vom Leib an.

Dagegen haben wir die Position von Aristoteles abgesetzt. Aristoteles kritisiert, dass Platon wie dessen Lehrer Sokrates das Physische zu Unrecht gering schätze und daher das Verhältnis von Leib und Seele nicht angemessen denken könne. Die Seele müsse richtigerweise als Form (eidos) und erste Wirklichkeit (entelecheia) der lebendigen Substanz (ousia) mit dem Leib als Materie (hyle) zusammengedacht werden. Wirkliches Leben sei immer Einheit von Stoff und Form (Hylemorphismus). In dieser Einheit ist die Seele als Träger von Lebensvermögen aktiv, wird nicht von der Materie bewegt, sondern bewegt sich selbst.

Die platonische Version des Begriffs der Seele folgt also einer eher ethischen Intention, die aristotelische versucht eher eine allgemeine Ontologie des Lebendigen zu liefern.

Aristoteles denkt dabei eine Stufenfolge niederer und höherer Seelenvermögen, die vegetativen Seelenvermögen des Stoffwechsels und des Wachstums, gefolgt von den animalischen des Wahrnehmens, Begehrens, des Gedächtnisses und der Phantasie, der Selbsterhaltung bis hin zu den höchsten des Denkens und Wollens. Aus der Ordnung der Seelenvermögen leitet sich dann bei ihm eine Hierarchie des Lebendigen ab, das Reich der Pflanzen, Tiere und Menschen.

Jetzt ein anderer Aspekt des Themas 'Seele' vom letzten Treffen:

Eine grundsätzliche Bemerkung zum philosophischen Status der gegenwärtigen Neurowissenschaften (Stichwort Gerhard Roth „Wie das Gehirn die Seele macht“, ich habe es bisher nicht gelesen und getraue mich dennoch, folgende kleine Geschichte zu erfinden:)

Man denke an eine junge Frau, die dabei ist, Klavier zu lernen. Sie gibt sich die allergrößte Mühe und ist ganz besonders talentiert. Ihre Eltern, Sponsoren oder wer auch immer wollen ihr das Maximale bieten, um ihr Talent voll zu entwickeln. Nun haben sie davon erfahren, dass die Neurowissenschaften in der Lage sein sollen, mittels bildgebender Verfahren recht genau und in Zukunft immer genauer zu verfolgen, ob sich in bestimmten Hirnarealen durch das Üben neue Synapsenverbindungen bilden, die für den Lernfortschritt charakteristisch sind. Mehr noch; man sei auf diese Weise sogar dahin gelangt, bestimmte neurologische Defizite behandelbar zu machen, die bei manchen Pianisten im Laufe ihres späteren Bühnenlebens auftreten könnten.

Sie wenden sich also an die betreuende berühmte russische Klavierpädagogin, die sie für den Unterricht ihres Schützlings haben gewinnen können und fragen sie, ob an dem Gerücht etwas dran ist. Da die berühmte Klavierlehrerin wirklich gut informiert und nicht von gestern ist, bestätigt sie den Förderern unseres jungen Talents, dass das wirklich so ist. So wird man denn gemeinsam beim führenden deutschen Neurowissenschaftler vorstellig, um den weiteren Bildungsverlauf der jungen Pianistin auch von dieser Seite her zu unterstützen und ihre spätere Karriere abzusichern. Und was stellt man fest? Man stellt natürlich fest, dass das zunehmende Training wirklich Hirnareale, die zuvor ein wenig träge waren, aktiviert und das es an Stellen auf den Computertomographien bunt zugeht, an denen bis vor kurzem noch stoffwechseltechnische Ödnis herrschte. Der betreuende Neurowissenschaftler schreibt daraufhin ein Buch mit dem Titel: Wie das Gehirn Klavier spielen lernt.

Da viele Mütter etwas für ihre klavierspielenden Töchter ganz vorn an der Front des wissenschaftlich Erkennbaren tun wollen, wird das Buch ein voller Erfolg. Und da die berühmten russischen Klavierpädergogen nur sehr begrenzte Ausbildungskapazitäten haben, kommt die eine oder andere Mutter auf die Idee, den kompetenten Neurowissenschaftler zu fragen, ob er nicht die Tochter in seinem Institut am Klavier unterrichten wolle, da er doch genau wisse, wie das Gehirn Klavierspielen lernt. Dies ganz so, wie man von einem Team guter Ingenieure erwarten darf, eine Produktionsstraße wirklich auch zu bauen, in der Maschinen (sozusagen ganz seelenlos) tadellose Mikrochips herstellen.



Welche Antwort würden Sie an Stelle des Neurowissenschaftler geben?

Hier die meine: „Ich fühle mich sehr geehrt durch die hohe Meinung, gnädige Frau, die sie von der Qualität meines Wissens und der sich daraus ergebenden Möglichkeiten haben. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass wir gegenwärtig doch noch nicht ganz so weit sind. Sie dürfen sich unser Wissen in Bezug auf die Fähigkeiten des Gehirns nicht vorstellen wie Ingenieurswissen. Gegenwärtig bestimmen wir gerade die Wirkung der Wiederholung bestimmter Etüden wie etwa Czerny Opus 299 Nr. 7 Molto allegro auf den Lernerfolg. Mein Assistent habilitiert diesbezüglich gerade über einige überraschende Potentiale in der Amygdala. Die Reihenuntersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Aber vielleicht kann ihre begabte Tochter da ja als Proband mitmachen. Ich muss Sie also leider einstweilen zur weiteren Ausbildung an eine mir bekannte hervorragende russische Klavierpädagogin verweisen. Und selbstverständlich freut mich, dass Ihnen mein Buch gefallen hat. Sie werden auch in Zukunft nicht auf meine Publikationstätigkeit zu verzichten haben. Mit freundlichen Grüßen...“

Die Seele (so wie Platon den Begriff einführt) ist das am Menschen, was Klavierspielen kann und zwar mit dem ganzen Ausdrucksreichtum und der Phantasie des kulturell entwickelten Spiels. Platon hat damit einen Diskursgegenstand definiert, den die Neurowissenschaften nicht erreichen und vielleicht – das wäre zu fragen – auch überhaupt nicht anstreben. Oder doch?

Die erste Frage in Sachen Psyche ist nicht, ob die Seele im Sinne heutiger physikalistischer Vorstellungen materiell ist oder nicht, sondern ob es einen Diskurs geben kann, der das Rätsel des Lebendigen (Platon sagt dazu die „Seele“) sprachlich umreißt und ausdifferenziert, ohne sich dabei auf eine wissenschaftliche Beglaubigung stützen zu können und ob es einen solchen Diskurs nicht nur geben kann, sondern sogar geben muss, wenn wir uns – ungewollt – vor die Frage der Sphinx gestellt sehen.

Die Frage der Sphinx ist bekanntlich die Frage nach dem Menschen, nach der Wahrheit von uns selbst. Sie nicht sinnvoll beantworten zu können, zieht im Mythos und in so manches Menschen Leben nach sich, von der Sphinx erwürgt und verschlungen zu werden. Verfolgt also Gerhard Roth mit „Wie das Gehirn die Seele macht“ die Absicht, der Sphinx antworten zu können, falls sie ihn fragt? Da man weiß, dass die Sphinx bei Theben in den Bergen wohnt, vermeidet man die Begegnung und macht vielleicht als Wissenschaftler besser keinen Urlaub in Griechenland.

Die Frage, die ich hier mit einer Figur des mythischen Denkens zuspitze, fragt nach den Grundbedingungen von Orientierung und Wissen. Wir neigen heute dazu, den Begriff Wissen auf das Format empirisch-wissenschaftlichen Wissens einzuschränken, ein Wissen um idealerweise exakt quantifizierbare Objekte der methodisch wiederholbaren Beobachtung identischer Resultate. Dabei ist das meiste Wissen, auf das wir im eigenen Leben zurückgreifen, durchaus nicht von dieser Art. Unsere ganz unverzichtbaren Kenntnisse von Personen und Beziehungen, mit denen wir leben, die meisten unserer Orientierungen bestehen aus Wissen anderer Art, das nicht quantifizierbar ist, sondern Qualitäten aufweist, Wissen, das sich nur sehr beschränkt mit gleichem Ergebnis wiederholen lässt. Hermeneutik und Phänomenologie, aber auch Psychoanalyse versuchen, Qualitäten durch Sinngeflechte hindurch zu verfolgen und sozusagen mit der Frage nach dem Menschen vor dessen Objektivierung zu beginnen.

Die Frage der Sphinx ist aber sogar noch eine Stufe brisanter und wird dort in der Tat lebensgefährlich: Gesucht ist, was sich zwischen Geburt und Tod bewegt. Das ist der Mensch für die Sphinx. Für die Naturwissenschaften ist der Mensch etwas anderes, eine objektiv beschreibbare Entität wie ein Stuhl oder ein Tisch, etwas, das man nicht ist, sondern das man vor sich hat. Von dem man grundsätzlich getrennt ist durch eine Apparatur, durch Messschemata und Beobachtungsvorschriften. Für einen Naturwissenschaftler ist das Leben ein Komplex quantitativ beschreibbarer Eigenschaften des Forschungsobjekts Mensch. Der Tod ist aus wissenschaftlicher Sicht nicht ein Schicksal, sondern Attribut eines Übergangszustands sich auflösender Organismen. Tod und Leben unterscheiden sich aus naturwissenschaftlicher Sicht viel weniger grundsätzlich voneinander als sich der Beobachter vom beobachteten Objekt unterscheidet. Tod und Leben sind zwei unterschiedlich beschreibbare Zustände des selben Objekts, sei es eine Amöbe, ein Mensch oder ein Hallimasch. Viel kritischer ist für einen Naturwissenschaftler die für ihn grundlegende Differenz von Beobachter und Beobachteten. Diese gilt es als sicheren Unterschied stabil zu halten, um Objektivität zu verbürgen. Wie das gehen soll, fragt die Wissenschaftstheorie durchaus. Die Frage „Wie macht das Gehirn die Seele“ ist zu dieser Nachfrage ungeeignet.

Ich möchte es noch etwas zuspitzen: Wofür braucht Platon den Begriff Seele? Im wesentlichen, um die Differenz von Leben und Tod zu bezeichnen. Die Seele ist für Platon das Leben selbst, das in die Materie, den Leib hineinfährt. Und warum ist die Seele für Platon ewig und unsterblich?

Damit die Differenz von Leben und Tod nicht den Ort einer ständig vom einen zum anderen oszillierenden Gefährdung markiert, sondern einen (von Göttern) garantierten Anfangspunkt des Denkens. Es muss Differenzen geben, von denen aus man jederzeit mit dem Denken beginnen kann. Die Fragen nach dem Menschen: bist du lebendig oder tot, Mann oder Frau, Vater oder Sohn? Von diesen scheint mir die Differenz von Leben und Tod die wohl basalste (und selbstverständlich existieren in anderen historischen Ordnungen des Denkens weitere basale Differenzen wie eben etwa die Differenz von Beobachter und beobachtetem Objekt).

Es wäre grundfahrlässig, das Bestehen dieser Differenz als immer schon gesichert anzusehen, als etwas, das nicht hergestellt werden müsste. Lebensgeschichte, Ethnologie, Psychiatrie, Religions- und Geistesgeschichte sagen das Gegenteil. Jules Cotard schildert 1880 den Fall einer 43-jährigen Patientin, die glaubte, kein Gehirn zu haben und tot zu sein (Cotard-Syndrom), weswegen sie verlangte, verbrannt zu werden. Und was, wenn das Erleben von Leben und Tod sogar ständig wechselt wie bei solchen Trauma-Opfern, deren Erinnerung unbeherrschbar zwischen Abgestorbenheit und Überdeutlichkeit changiert? Haben diejenigen Unrecht, die den schlagendsten Beweis für die Existenz der Seele im Leiden sehen? Psychotiker sehen sich mit der drängenden Erfahrung der Unsicherheit dieser und anderer grundlegender Differenzen konfrontiert und die geistig gesündesten sind es vermutlich ebenso, auch wenn es ihnen offenbar möglich ist, damit wesentlich gelassener umzugehen. Die Sphinx führt genau an den Ort der Herstellung dieser Differenz, die uns die vielleicht selbstverständlichste und am wenigsten fragwürdige von allen ist. Dies ist der Ort des Menschen, das Leben, das um seine ewige Wahrheit kämpft, leidlich stabil genau das nicht zu sein, wovon es eingekreist wird: vom Tod. Und diese (ehedem von Göttern bewachte und auch heute noch keineswegs unbewachte) ewige Wahrheit, diese offene Flanke des Todes ist die Seele.

Uns scheint heute zumeist der Unterschied von lebendig und tot ein völlig triviales Faktum, das weiter nichts Großartiges sagt, keine Grundwahrheit. Früher musste alles, was lebt, noch von einem Gott, einer Nymphe von irgendeiner mächtigen, die Differenz garantierenden Mythengestalt bewohnt werden. Aber wird die metaphysische Sicherung der Differenz von Leben und Tod heute noch gebraucht? Mit Blick auf die Naturwissenschaften scheint das nicht mehr so zu sein. Das Leben und der Tod scheinen zu zwei unterschiedlich komplexen Niveaus des Energieaustausches ein und derselben Materie geworden zu sein. Und mehr nicht.

Ich denke, wir sind heute in der Philosophie noch nicht völlig in der Lage, abzuschätzen, was es im Hinblick auf die Frage Was ist der Mensch hieße, wenn die Differenz Beobachter - Objekt, schauend - angeschaut die Differenz lebendig - tot als Leitdifferenz der Unterscheidung des Fremden vom Eigenen abgelöst haben sollte. Wir wissen nicht einmal, ob sie das letztlich hat. Was wir erleben, ist der quantifizierende Blick auf alle Lebensbereiche in Wissenschaft und Ökonomie und die fortgeschrittene Ausdifferenzierung von gegeneinander „operativ geschlossenen“ (Luhmann) Diskurssphären, die intern anderen Leitdifferenzen folgen.

Und wir wissen nicht genau, in wieweit wir den Gehalt des Begriff Leben (den Sinn von Leben), den zu bestimmen uns keineswegs dadurch leichter wird, dass wir Synapsen und Verschaltungen kennen, überhaupt noch benötigen, um über uns und die Polis nachzudenken.

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